32.
Um diese Zeit folgte auf Felix, der fünf Jahre die römische Kirche geleitet, Eutychianus. Dieser regierte nicht ganz zehn Monate1 und hinterließ das Amt unserem Zeitgenossen Gaius. Und nachdem dieser ungefähr fünfzehn Jahre vorgestanden,2 trat Marcellinus an seine S. 363 Stelle, der gleiche, den die Verfolgung ereilte. Zu ihrer Zeit bekleidete in Antiochien Timäus als Nachfolger des Domnus die bischöfliche Würde. Ihm folgte unser Zeitgenosse Cyrillus, unter dessen Amtsführung wir Dorotheus kennenlernten, einen gebildeten Mann, der des priesterlichen Amtes in Antiochien gewürdigt ward. Dieser beschäftigte sich eifrig mit den göttlichen Dingen und befliß sich auch der hebräischen Sprache, so daß er die hebräischen Schriften selbst lesen und verstehen konnte. Von feinster Bildung und wohl bewandert in den griechischen Wissenschaften, war er von Geburt an Eunuch. Der Kaiser schenkte ihm darob in auffallender Weise sein Vertrauen und zeichnete ihn aus durch Übertragung der Aufsicht über die Purpurfärberei in Tyrus. Wir hörten ihn in der Kirche mit Geschick die Schriften erklären.
Nach Cyrill überkam Tyrannus das bischöfliche Amt in der Gemeinde der Antiochener. Unter seinem Episkopate erreichte die Bedrängung der Kirchen ihren Höhepunkt.
Die Kirche von Laodizea leitete nach Sokrates Eusebius, aus Alexandrien gebürtig. Anlaß zu seiner Auswanderung war die Angelegenheit mit Paulus. Seinetwegen war er nach Syrien gekommen und wurde durch die dort verhandelnden Theologen von der Rückkehr in die Heimat abgehalten. Er war nämlich unter unseren Zeitgenossen ein liebenswürdiges Muster an Gottseligkeit, wie sich leicht aus den oben3 erwähnten Worten des Dionysius erkennen läßt. Auf Eusebius folgte Anatolius, auf den Guten der Gute, wie man zu sagen pflegt. Auch er stammte aus Alexandrien und nahm infolge seiner Gelehrsamkeit und Erziehung und seiner Schulung in der griechischen Philosophie unter den angesehensten Männern unserer Zeit den ersten Rang ein. In Arithmetik und Geometrie, in Astronomie und ande- S. 364 ren Wissenschaften, Dialektik, Physik, Rhetorik hatte er es zur höchsten Vollkommenheit gebracht und wurde daher, wie berichtet wird, von den Bürgern Alexandriens gebeten, dort die Schule aristotelischer Richtung zu gründen. Man erzählt sich von ihm auch zahlreiche andere edle Taten anläßlich der Belagerung von Piruchium4 in Alexandrien, wo er einstimmig einer hervorragenden Stelle im Rat der Stadt gewürdigt ward. Beispielshalber will ich nur das Folgende anführen: Als den Belagerten — so erzählt man — der Weizen ausging, so daß ihnen der Hunger bereits unerträglicher wurde als der äußere Feind, ersann Anatolius, der unter ihnen weilte, folgenden Plan. Der eine Teil der Stadt kämpfte auf Seiten des römischen Heeres und war so von der Belagerung frei. In diesen unbelagerten Bezirken hielt sich Eusebius auf — er war noch hier, es war vor seiner Auswanderung nach Syrien —, dessen großer Ruhm und gefeierter Name bis zu den Ohren des römischen Feldherrn gekommen war. Ihn verständigte Anatolius durch einen Boten von den Opfern, die der Hunger während der Belagerung forderte. Auf diese Kunde hin erbat Eusebius vom römischen Feldherrn als besondere Gnade persönliche Sicherheit für die, welche aus freien Stücken vom Feinde übergehen würden. Die Bitte wurde gewährt, und er benachrichtigte davon Anatolius. Daraufhin berief dieser sofort eine Versammlung der Alexandriner ein und forderte zunächst alle auf, den Römern die Freundeshand zu reichen. Als er aber merkte, daß sie über diesen Vorschlag ungehalten waren, erklärte er: „Aber dem wenigstens, meine ich, werdet ihr doch kaum widersprechen, wenn ich euch rate, die Leute, die überflüssig und uns in nichts nütze sind, alte Frauen, Kinder und Greise, frei abziehen zu lassen, wohin sie wollen. Wozu denn sollen wir diese Menschen, die jeden Augenblick sterben werden, nutzlos bei uns behalten? Wozu die Verkrüppelten und körperlich Verstümmelten S. 365 dem Hunger preisgeben, da man doch nur Männer und Jünglinge ernähren und die notwendigen Lebensmittel nur den zur Verteidigung der Stadt Tauglichen zukommen lassen darf?“ Nachdem er durch solche Vorstellungen die Versammlung zu überzeugen gesucht, stand er als erster auf und gab seine Stimme dafür ab, daß man die ganze Schar der Kriegsuntauglichen, Männer wie Frauen, aus der Stadt entlasse, da sie, wenn sie verblieben und unnütz in der Stadt verweilten, hoffnungslos vom Hunger aufgerieben würden. Da alle übrigen Versammelten zustimmten, rettete er so fast die Gesamtzahl der Belagerten. Er traf Vorsorge, daß zuerst die Angehörigen der Kirche, dann aber auch die übrigen Bewohner der Stadt jeglichen Alters entweichen konnten, und nicht bloß jene, die unter die Bestimmung des Beschlusses fielen, sondern, hinter diese sich verschanzend, auch unzählige andere, die Frauenkleider anlegten und heimlich des Nachts unter seiner Beihilfe aus den Toren traten und dem römischen Lager zueilten. Hier nahm Eusebius alle wie ein Vater und Arzt auf und stellte sie, die unter der langen Belagerung gelitten, durch sorgfältige Pflege wieder her.
Zweier solcher Hirten wurde die Kirche von Laodizea unmittelbar nacheinander gewürdigt, die durch Gottes Fügung nach dem erwähnten Kriege aus der Stadt der Alexandriner dorthin übergesiedelt waren. Anatolius schrieb nicht sehr viele Bücher. Doch sind so viele auf uns gekommen, daß wir daraus seine Redegabe und große Gelehrsamkeit zu erkennen vermögen. Er legt darin vor allem seine Anschauungen über das Osterfest dar. Es dürfte sich empfehlen, hier folgendes daraus anzuführen:
Aus dem Osterkanon des Anatolius: „Er hat also im ersten Jahre den Neumond des ersten Monats, der der Anfang des ganzen neunzehnjährigen Zyklus ist, nach den Ägyptern am 26. Phamenoth, nach den Monaten der Mazedonier aber am 22. Dystros, wie die Römer sagen würden, elf Tage vor den Kalenden des April. S. 366 Die Sonne erscheint an dem erwähnten 26. Phamenoth nicht nur in das erste Zeichen des Tierkreises eingetreten, sondern bereits den vierten Tag ihre Bahn darin zurücklegend. Dieses Zeichen pflegt man erstes Zwölfteil, Tagundnachtgleiche, Anfang der Monate, Haupt des Tierkreises und Ausgang des Planetenlaufes zu nennen, das vorhergehende aber letzten Monat, zwölftes Zeichen, letztes Zwölfteil und Ende des Planetenlaufes. Wir behaupten daher, daß diejenigen, welche in dieses letzte Zwölfteil den ersten Monat verlegen und demgemäß den 14. Tag des Osterfestes berechnen, einem nicht unbedeutenden oder kleinen Irrtum verfallen. Diese Aufstellung stammt aber nicht von uns. Schon den alten Juden vor Christus war sie bekannt und wurde von ihnen aufs genaueste beobachtet. Man kann das aus Worten des Philo, des Josephus und des Musäus ersehen, und nicht allein aus diesen, sondern auch aus den noch älteren beiden Agathobulen, welche den Beinamen ‚Lehrer’ führen, und dem vortrefflichen Aristobul, der zu den Siebzig gehört, welche die heiligen und göttlichen Schriften der Hebräer für Ptolemäus Philadelphus und dessen Vater übersetzten, und der Erklärungen zu dem Gesetze des Moses den gleichen Königen widmete. In Erläuterung der Fragen in betreff des Buches Exodus sagen diese Männer, daß alle das Osterlamm in gleicher Weise nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche in der Mitte des ersten Monats schlachten müßten. Dieser Termin aber sei gegeben, wenn die Sonne durch das erste Zeichen des Sonnen- oder, wie einige aus ihnen sich ausdrückten, des Tierkreises gehe. Aristobul5 setzt noch hinzu, daß am Osterfeste nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond durch das Zeichen der Tagundnachtgleiche gehen müsse. Da es nämlich zwei Zeichen der Tagundnachtgleiche gibt, das eine im Frühjahr, das andere im Herbst, S. 367 und diese diametral einander gegenüberliegen, und da der Ostertag auf den 14. des Monats gegen Abend angesetzt ist, so wird der Mond die Stelle einnehmen, die der Sonne diametral gegenübersteht, wie man das bei den Vollmonden sehen kann. Es wird also die Sonne im Zeichen der Frühlings-Tagundnachtgleiche, der Mond aber notwendigerweise im Zeichen der Herbst-Tagundnachtgleiche stehen. Ich weiß, daß von jenen Männern noch zahlreiche andere Momente, teils Wahrscheinlichkeitsbeweise, teils schlagende Gründe, angeführt werden, womit sie darzutun suchen, daß das Fest des Pascha und der Ungesäuerten Brote auf jeden Fall nach der Tagundnachtgleiche stattfinden müsse. Doch ich unterlasse es, einen solchen Ballast an Beweisen für Menschen anzufordern, für welche die auf dem Gesetze des Moses liegende Hülle hinweggenommen ist, und die fürderhin nun mit unverhülltem Angesicht allzeit Christus und Christi Lehren und Leiden wie in einem Spiegel schauen.6 Daß aber der erste Monat bei den Hebräern um die Tagundnachtgleiche liege, ergeben auch die Lehren des Henochbuches.“7
Anatolius hinterließ auch Einführungen in die Arithmetik in ganzen zehn Abhandlungen8 und noch andere Proben seines Fleißes und seines reichen Wissens in göttlichen Dingen.9 Bischof Theoteknus von Cäsarea in Palästina hatte ihn zuerst zum Bischof geweiht mit dem Wunsche, ihn nach seinem Tode zum Nachfolger S. 368 in seiner Gemeinde zu bekommen. Kurze Zeit leiteten beide zusammen die gleiche Kirche. Als ihn aber die wegen Paulus zusammengetretene Synode nach Antiochien berief, wurde er bei der Durchreise durch Laodizea von den dortigen Brüdern festgehalten, da Eusebius eben entschlafen war.
Nach dem Hinscheiden des Anatolius wurde Stephanus als Bischof in der dortigen Gemeinde aufgestellt, der letzte vor der Verfolgung. Er wurde zwar wegen seiner philosophischen Kenntnisse und der sonstigen griechischen Gelehrsamkeit allgemein bewundert, doch besaß er für den göttlichen Glauben nicht die gleiche Begeisterung, wie der Verlauf der Verfolgung deutlich zeigte. Sie hatte bewiesen, daß er mehr ein versteckter und feiger und unmännlicher Mensch denn ein echter Philosoph war. Aber die Kirche sollte darob nicht zugrundegehen. Sie wurde wieder aufgerichtet durch einen Mann, den alsbald Gott selbst, der Erlöser aller, zum Bischof der dortigen Gemeinde bestimmt, durch Theodot, dessen Taten seinem eigenen Namen wie dem eines Bischofs entsprechen.10 Dieser besaß hervorragende Fähigkeiten in der Kunst der Körperheilung, aber auch die Gabe der Seelenpflege war ihm eigen, wie kaum einem andern, dank seiner Menschenfreundlichkeit, seiner lauteren Gesinnung, seines Mitfühlens und seiner Dienstwilligkeit gegen die, welche seiner Hilfe bedurften. Auch um die göttlichen Wissenschaften hatte er sich viel bemüht. Ein solcher Mann war Theodot.
In Cäsarea in Palästina folgte auf Theoteknus, der das bischöfliche Amt mit größtem Eifer verwaltet, Agapius. Auch von diesem wissen wir, daß er in unermüdlicher Arbeit treuestens für das ihm anvertraute Volk gesorgt und sich insbesondere aller Armen mit vollen Händen angenommen hat. Um diese Zeit lernten wir Pamphilus kennen, einen ausgezeichneten Menschen und in seiner Lebensführung wahren Philosophen, der in der dortigen S. 369 Gemeinde des Priesteramtes gewürdigt ward. Es wäre keine geringe Aufgabe, wollte man darlegen, wer dieser Mann gewesen und woher er gekommen. Einzelnes indes aus seinem Leben und der von ihm gegründeten Schule sowie seine Kämpfe bei verschiedenen Bekenntnissen während der Verfolgung und schließlich den Kranz des Martyriums, den er sich gewunden, haben wir in eigenem seiner Person gewidmeten Werke behandelt.11 Unter denen, die hier gelebt, war er sicherlich die bewundernswerteste Erscheinung.
An Männern von seltensten Eigenschaften kennen wir aus unseren Tagen Pierius, einen der alexandrinischen Presbyter, und Meletius, den Bischof der Kirchen im Pontus. Pierius12 hatte sich durch ein Leben äußerster Armut und seine philosophischen Kenntnisse einen Namen erworben. Er besaß erstaunliche Gewandtheit in der Erforschung und Erklärung der heiligen Schriften und im Reden vor versammelter Gemeinde. Meletius aber — die Biene Attikas nannten ihn die Gebildeten — entsprach dem Ideale eines in jeder Beziehung gelehrten Mannes. Es ist nicht möglich, die Kraft seiner Beredsamkeit gebührend zu bewundern. Doch dies, könnte man sagen, ist bei ihm ein Geschenk der Natur. Wer aber überböte weiterhin die Fülle seiner reichen Erfahrung und seiner Kenntnisse? Auf eine einzige Probe hin müßtest du gestehen, daß er der Kundigste und der Tüchtigste sei in allen Wissenszweigen. Auf gleicher Höhe steht sein durch Tugend ausgezeichnetes Leben. Als solchen Mann haben wir ihn während voller sieben Jahre, da er sich zur Zeit der Verfolgung in den Gegenden Palästinas als Flüchtling aufhielt, kennengelernt.In der Kirche von Jerusalem übernahm nach dem etwas weiter oben erwähnten Bischof Hymenäus Zabdas S. 370 das Hirtenamt. Nach dessen bald darauf erfolgtem Tode bestieg Hermon als letzter unter den Bischöfen vor der Verfolgung unserer Tage den bis heute dort aufbewahre ten Thron des Apostels.13 In Alexandrien folgte auf Maximus, der nach dem Tode des Dionysius achtzehn Jahre die bischöfliche Würde innegehabt, Theonas. Unter ihm stand in Alexandrien im Ansehen Achillas, der zugleich mit Pierius des Priesteramtes gewürdigt und mit der Leitung der Schule des heiligen Glaubens betraut ward. Er offenbarte wie keiner seltenstes philosophisches Streben und echte Art evangelischen Wandels. Nach Theonas, der neunzehn Jahre treu gedient, folgte Petrus auf dem bischöflichen Stuhle zu Alexandrien, auch er eine hervorragende Zierde für volle zwölf Jahre. Davon leitete er die Kirche vor der Verfolgung nicht ganz drei Jahre. Die noch übrige Zeit seines Lebens widmete er sich strengerer Askese und sorgte dabei offen für das gemeinsame Wohl der Kirchen. Dafür wurde er im neunten Jahre der Verfolgung enthauptet und so mit der Krone des Martyriums geschmückt.14
Nachdem wir in diesen Büchern den Gegenstand der Bischofsreihen, von der Geburt unseres Erlösers bis zur Zerstörung der Bethäuser über 305 Jahre sich erstreckend, umrissen haben, lasset uns im Anschluß daran zur Kenntnis der Nachwelt die Größe und Art der Kämpfe derer niederschreiben, die in unsern Tagen für die Frömmigkeit männlich gestritten. S. 371
-
Eutychianus regierte tatsächlich über acht Jahre. „Um den Fehler (bezügl. der Regierung des Xystus) einigermaßen wegzuschaffen, hat Eutychianus (Anfang 275—7. Dez. 283), dessen Amtsdauer im liberianischen Katalog im wesentlichen richtig mit 8 Jahren, 11 Monaten, 3 Tagen angegeben ist, nicht ganz zehn Monate erhalten“ (Schwartz, CCXXVIII f.). ↩
-
Gaius regierte nicht 15 Jahre, sondern vom 17. Dez. 283 bis 22. April 296, d. i. 12 Jahre, 4 Monate, 7 Tage, wie der liberianische Katalog angibt. — Bezüglich der Regierung von Eutychianus und Gaius vgl. C. H. Turner, „The papal chronology in the third Century”, in Journal of Theological Studies 17 (1916), S. 350. ↩
-
Oben VII 11 (S. 335). ↩
-
= Stadtteil von Alexandrien. ↩
-
Zwei weitere Fragmente der erwähnten Schrift des Aristobul werden von Eusebius angeführt in „Evang. Vorbereitung“ VIII 10 und XIII 12. ↩
-
Vgl. 2 Kor. 3, 15 f, 18. ↩
-
Henoch 72 f. (E. Kautzsch, „Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Test.“ II2 S. 278—280). Vgl. E. Schwartz, „Christliche und jüdische Ostertafeln“ (Abhandlungen der Gesellsch. der Wiss. zu Göttingen, Philol. hist. KL, N.F. 8f 6, Berlin 1905), S. 104ff. — Das von Eusebius überlieferte Fragment aus Anatolius findet sich in der Übersetzung des Rufinus größtenteils auch in dem lateinischen Liber Anatolii de ratione paschali, einer auf den britischen Inseln im 6. Jahrhundert entstandenen Fälschung. ↩
-
Diese Schrift scheint bruchstückweise noch vorzuliegen. ↩
-
Die theologischen Schriften sind spurlos zugrundegegangen. ↩
-
Theodot = „von Gott geschenkt“. ↩
-
Die drei Bücher zählende Biographie des Pamphilus ist der Zeit zum Opfer gefallen. ↩
-
Pierius, „der jüngere Origenes“ genannt, war Lehrer des Pamphilus. ↩
-
Vgl. oben VII 19 (S. 340). ↩
-
Die ursprüngliche, nur sieben Bücher umfassende Ausgabe der Kirchengeschichte des Eusebius hatte hier abgeschlossen. ↩