1.
V. 17: Glaubet nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben.„
Wer hat sich denn so etwas eingebildet oder wer hat einen diesbezüglichen Einwand gemacht, dass der Herr sich dagegen wendet? Aus dem, was er bisher gesagt hatte, konnte doch unmöglich ein solcher Gedanke sich nahelegen; denn wenn er uns befahl, sanftmütig zu sein, friedfertig und barmherzig, ein reines Herz zu besitzen und für die Gerechtigkeit zu streiten, so weist dies alles in keiner Weise auf eine derartige Absicht hin, S. 270sondern auf das gerade Gegenteil. Warum hat er also denn so geredet? Nicht ohne guten Grund. Er stand eben im Begriffe, ein höheres Gesetz zu geben, als es die alten Vorschriften waren. Er sagte: “Ihr habt gehört, dass euren Vorfahren gesagt wurde: Du sollst nicht töten; ich aber sage euch: Ihr sollt auch nicht einmal zürnen„1 ; damit wollte er einer göttlichen, himmlischen Lebensnorm den Weg bahnen. Damit aber das Neue an der Sache in den Seelen seiner Zuhörer keine Verwirrung hervorrufe und sie zu zweifeln über seine Worte veranlasse, so kommt er ihnen gleich durch seine Richtigstellung zuvor. Denn wenn auch die Juden das Gesetz nicht beobachteten, so hielten sie dennoch große Stücke darauf, und während sie es in der Praxis jeden Tag übertraten., so wollten sie gleichwohl am Buchstaben des Gesetzes nicht rütteln und keinen einzigen hinzufügen; oder vielmehr sie ließen ihre Hohepriester etwas hinzufügen, aber nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren. So haben sie z.B. die den Eltern schuldige Ehre durch ihre eigenen Zusätze zunichte gemacht; auch eine Reihe anderer Gebote haben sie durch solche unangebrachte Zutaten aufgehoben.
Christus hingegen war nicht Mitglied der Priesterkaste, und was er einführen wollte, war allerdings ein Zusatz, aber ein solcher, der die Tugend nicht einschränkte, sondern ausdehnte. Da er aber voraus wusste, dass beides sie in Verwirrung bringen werde, so widerlegte er ihre geheimen Gedanken, noch bevor seine wunderbaren Vorschriften niedergeschrieben wurden. Was war es also, das sich in ihre Gedanken eingeschlichen und sie gegen den Herrn einnahmen? Sie glaubten, er wolle mit solchen Reden die Gesetzesvorschriften des Alten Bundes aufheben. Diesem Argwohn also begegnete der Herr und zwar nicht bloß hier, sondern auch ein zweites Mal an anderer Stelle. Da sie ihn nämlich deshalb für einen gottlosen Menschen hielten, weil er den Sabbat nicht halte, so heilte er sie von solchem Argwohn und verteidigte sich auch dagegen; das eine Mal, so wie es seiner Würde entsprach, wie z.B. wenn S. 271er sagte: “Mein Vater wirkt und auch ich wirke„2 ; ein andermal in ganz schlichten, einfachen Worten, z.B. da, wo er von dem Schafe spricht, das sich am Sabbat verirrt hatte, und wo er zeigte dass zu dessen Rettung das Gesetz übertreten wurde, ja die Juden daran erinnert, dass das gleiche auch durch die Vornahme einer Beschneidung geschehe3 . Deshalb spricht er auch oft so demütig um den Schein zu vermeiden, als sei er ein Widersacher Gottes. Deshalb betete er auch, bevor er den Lazarus aus dem Grabe rief4 ,obwohl er früher unzählige Tote mit einem einzigen Worte auferweckt hatte. Damit er aber deswegen nicht geringer erscheine als sein Vater, so wollte er alsbald einen solchen Argwohn richtig stellen und fügte hinzu: “So habe ich gesprochen wegen des umstehenden Volkes, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast5 . Er gibt sich weder den Anschein, als ob er alles aus eigener Kraft wirke, weil er ihrem schwachen Glauben zu Hilfe kommen wollte, noch schickte er jedesmal ein Gebet voraus, damit er den späteren Generationen keine Handhabe zu falschem Argwohn biete, als besäße er selber keine Kraft und Macht; vielmehr wechselte er mit beiden ab. Aber auch das tut er nicht ohne Grund, sondern mit Absicht und mit der ihm eigenen Weisheit. Die größeren wirkt er nämlich aus eigener Macht; bei den kleineren blickt er vorher zum Himmel empor. Wenn er Sünden nachlässt und Verborgenes offenbart, wenn er das Paradies öffnet und die Dämonen vertreibt, Aussätzige reinigt, dem Tode Zügel anlegt und zahllose Tote auferweckt, da wirkt er alles durch einen Befehl. Als er aber, was viel weniger ist als dies, aus wenigen Broten viele machte, da schaute er zum Himmel empor und zeigte damit, dass er dies nicht aus Ohnmacht tue. Wer nämlich das Größere aus eigener Kraft vermag, wie hätte der bei geringeren Dingen das Gebet nötig? Indes, wie ich schon gesagt habe, er tut dies, um dem S. 272bösen Willen der Juden entgegenzutreten. Das gleiche setze also auch bei seinen Worten voraus, wenn du ihn demütig und unterwürfig reden hörst. Denn auch für solche Reden und Handlungen hatte er gar mancherlei Beweggründe; wie z.B. damit niemand glaube, er stehe Gott ferne, damit er alle belehren6 und auf die rechte Bahn führen könnte, um ihnen das Beispiel der Demut zu geben, um ihnen zu zeigen, dass er Fleisch angenommen, dass die Juden nicht alles auf einmal zu erfahren imstande seien, um sie zu belehren, niemals groß von sich selber zu reden. Deshalb hat er so oft demütig von sich selbst geredet und überließ es den anderen, seine Großtaten zu predigen.