4.
Damit scheint mir Christus sagen zu wollen, man solle die Gebete nicht lang machen, d.h. lang, nicht der Zeit nach, sondern durch die Menge und Länge der Worte. Wir sollen ja auch bei unserem Gebete Beharrlichkeit zeigen. "Im Gebete", heißt es, "verharrend"1 . Der Herr selbst führt dann jenes Gleichnis mit der Witwe an, die den unbarmherzigen, grausamen Richter durch beharrliches Bitten umstimmte, sowie das andere Beispiel mit dem Freunde, der zu unzeitiger Nachtstunde daherkommt und den Schläfer von seinem Lager aufscheucht, nicht wegen seiner Freundschaft, sondern durch seine Beharrlichkeit. Mit beiden Gleichnissen wollte er uns aber keine andere Lehre geben, als die, S. 350dass wir alle mit Beharrlichkeit uns an ihn wenden sollen. Dagegen will er ganz und gar nicht, dass wir mit meilenlangen Gebeten zu ihm kommen, sondern dass wir unsere Anliegen mit aller Einfachheit vorbringen. Eben das hat er mit den Worten angedeutet: "Sie glauben, sie würden ob ihrer vielen Worte Erhörung finden."
V.8:2 "weiß ja, wessen ihr bedürftig seid".
Aber, sagst du, wenn er schon weiß, wessen wir bedürfen, wozu soll man dann noch beten? Nicht um Gott zu belehren, sondern um ihn zur Erhörung deiner Bitte geneigt zu machen, um dich an beharrliches Bitten zu gewöhnen, dich zu demütigen, dich an deine Sünden zu erinnern.
V.9: "Ihr also" sagt Christus, sollt so beten: Vater unser, der du bist in dem Himmel."
Beachte, wie er zuallererst den Zuhörer aufrichtet, und ihn schon durch das erste Wort an alle erdenklichen Wohltaten erinnert. Wer nämlich Gott den Namen Vater gibt, bekennt durch diese Anrede allein schon auch seinen Glauben an die Verzeihung der Sünde, Nachlass der Strafe, Rechtschaffenheit, Heiligung, Erlösung, Gotteskindschaft, Erbschaft und Bruderschaft mit dem Eingeborenen, sowie die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Es ist ja nicht möglich, Gott den Namen Vater zu geben, ohne all dieser Gnadengaben teilhaft geworden zu sein. Durch ein Zweifaches regt er also ihre Aufmerksamkeit an: durch die Würde dessen, den er nennt, und durch die Größe der Gaben, die sie empfangen hatten. Wenn er aber sagt: in dem Himmel, so tut er dies, nicht um Gott gleichsam ihn den Himmel einzuschließen, sondern um den Betenden von der Erde abzuziehen, ihn in die höheren Regionen und zu den himmlischen Dingen zu erheben. Er lehrt uns aber auch, gemeinsam für unsere Brüder zu beten. Er sagt nämlich nicht: Mein Vater, der du im Himmel bist, sondern: "Unser Vater"; er will damit unsere Gebete zu einer Fürbitte für die gemeinsame Kirche3 erheben und uns lehren, nie den eigenen S. 341Vorteil im Auge zu haben, sondern immer und überall den des Nächsten. Dadurch macht er aber auch die Feindschaften unmöglich, unterdrückt den Stolz, verbannt den Neid und öffnet der Quelle alles Guten, der Liebe, den Zugang, beseitigt die Ungleichheit unter den Menschen und zeigt, dass der König nicht viel höher stehe als der Bettler, da wir ja es, aus niederem Stande zu sein, wenn wir der höheren, geistigen Geburt nach auf gleicher Stufe stehen, und keiner etwas vor dem anderen voraus hat, wenn der Reiche nicht mehr besitzt als der Arme, der Herr nicht mehr ist als sein Sklave, der Herrscher nicht mehr als sein Untertan, der König nicht über einem einfachen Soldaten steht, ein Philosoph nicht über dem Barbaren, ein Gelehrter nicht über dem Ungelehrten. Allen hat ja Gott den gleichen Geburtsadel verliehen, da er sich würdigte, der gemeinsame Vater aller Menschen genannt zu werden. An diesen Adel wollte er uns also erinnern und an die Gabe von oben, an die gleiche Standeswürde aller Brüder, an die Liebe, wollte uns von der Erde abziehen und dem Himmlischen zuwenden. Sehen wir nunmehr, um was er uns sonst noch bitten heißt. Eigentlich genügt ja dieses Wort "Vater" allein schon, um die Forderung jeglicher Tugend daraus abzuleiten. Wer nämlich Gott einen Vater nennt, und zwar den gemeinsamen Vater aller, der sollte billigerweise ein solches Leben führen, dass er solch edler Abstammung nicht unwürdig erscheint, und sollte einen dieser Gabe entsprechenden Eifer im Guten an den Tag legen.
Indes begnügt sich der Herr damit nicht. Er fügt noch eine andere Bitte hinzu und sagt: "Geheiligt werde dein Name." Das ist ein Gebet, würdig dessen, der Gott seinen Vater nennt; ein Gebet, in dem man jeder anderen Bitte die Ehre des Vaters voranstellt und alles andere seinem Lobpreis unterordnet. Der Ausdruck: "Es werde geheiligt" hat nämlich den Sinn: Es werde verherrlicht. Gott besitzt zwar schon von sich aus die Fülle aller Herrlichkeit, die ihm auch immerdar bleibt, gleichwohl befiehlt er beim Gebete, darum zu bitten, dass er auch durch unser Leben verherrlicht werde. So hat er S. 352 auch früher gesagt: "Euer Licht soll leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater loben, der im Himmel ist!4 Auch die Seraphim, die Gott verherrlichen wollten, riefen: Heilig, heilig, heilig"5. "Es werde geheiligt" hat also den Sinn von: Es werde verherrlicht. Christus wollte damit sagen: Bitte, dass wir so rein leben, dass unseretwegen alle Dich verherrlichen. Auch das ist wieder eine Frucht vollkommener Lebensweisheit, allen gegenüber ein so tadelloses Leben zu führen, dass ein jeder, der es sieht, Gott dafür lobt und preist.
V.10: "Zukomme6 Dein Reich."
Gerade so redet wieder ein gutgesinntes Kind Gottes. Es hängt nicht am Sichtbaren, hält die irdischen Dinge nicht für etwas Großes, sondern fühlt sich hingezogen zum Vater und sehnt sich nach den zukünftigen Dingen. Das ist die Wirkung eines guten Gewissens und einer Seele, die von allen irdischen Dingen losgeschält ist.