5.
Aber trotzdem kommt dir der Verlust unerträglich vor. Nun, dann solltest du gerade deswegen den anderen nicht beweinen; denn er ist jetzt von vielen derartigen Schicksalsschlägen befreit. Sei also nicht abgeneigt und missgünstig gegen ihn. Denn sich selbst den Tod wünschen wegen des vorzeitigen Verlustes des anderen, ihn betrauern, weil er nicht mehr lebt und nicht mehr imstande ist, viele ähnliche Leiden zu erfahren, das tut nur einer, der eher von Missgunst und Abneigung erfüllt ist. Denke also nicht daran, dass er nicht nach Hause zurückkehrt, sondern vielmehr, dass du selbst nach kurzer Zeit zu ihm gehen wirst. Grüble nicht darüber nach, dass er nicht mehr hierher zurückkommen werde, sondern darüber, dass die ganze sichtbare Welt selbst nicht so bleiben wird, dass auch sie umgewandelt wird. Der Himmel, die Erde, das Meer, alles wird umgestaltet, und dann wirst du dein Kind in größerer Herrlichkeit wieder erhalten. Und wenn einer in Sünden dahingeschieden ist, so war er eben im Bösen verhärtet; denn hätte Gott gewusst, dass er sich noch bekehren würde, so hätte er ihn nicht vor der Buße sterben lassen. Ist er aber im Zustand der Gerechtigkeit gestorben, so ist er im sicheren Besitze der Seligkeit. Daraus ergibt sich klar, dass deine Tränen nicht der Ausfluss der Liebe sind, sondern unvernünftiger Leidenschaft. Denn hättest du den Verstorbenen geliebt, so S. d448 müsstest du dich freuen und frohlocken darüber, dass er den Gefahren dieses Lebens entronnen ist. Oder sage, was bietet uns das Leben mehr? Was sieht man besonders Merkwürdiges und Neues? Wiederholt sich nicht Tag für Tag der Kreislauf der Dinge. Tag und Nacht, Nacht und Tag, Winter und Sommer, Sommer und Winter und weiter nichts? Das alles bleibt sich immer gleich. Nur die Übel sind außergewöhnlich und wirklich neu. Und du wolltest, dass er sich damit Tag für Tag abgebe und hier bleibe, Krankheiten, Trauer, Furcht und Angst ertrage, und viel Unheil entweder erfahre oder wenigstens fürchte, es erfahren zu müssen? Das kannst du doch wohl nicht behaupten, dass es möglich sei, das weite Meer dieses Lebens zu durchfahren und dabei von Kummer und Sorgen und allen anderen Dingen dieser Art freizubleiben. Außerdem bedenke auch, dass du keinem Unsterblichen das Leben geschenkt und wäre er nicht heute gestorben, der Tod hätte ihn doch kurze Zeit später erreicht.
Aber du konntest dich noch gar nicht satt sehen an ihm! Dafür wirst du ihn in der anderen Welt für immer besitzen. Allein du möchtest ihn auch hienieden sehen? Nun, was hindert dich daran? Er ist auch hienieden, wenn du nur vernünftig bist. Denn die Hoffnung auf das Zukünftige ist besser, als wenn du ihn vor dir sähest. Ja, wenn du ihn in einem königlichen Palaste wüsstest, so würdest du ihn nicht mehr zu sehen verlangen, in dem Bewusstsein, dass es ihm gut geht. Und hier, wo du ihn doch an einen viel besseren Ort hingehen sahest, bis du verzagt, obwohl es sich nur um kurze Zeit handelt, und obwohl du statt seiner doch noch deinen Gemahl hast. Aber du hast keinen Mann mehr? Dafür hast du doch einen Tröster, den Vater der Waisen, den Richter der Witwen. Höre nur, wie Paulus diese Witwenschaft glücklich preist mit den Worten: „Wer eine wahrhafte Witwe ist und allein lebt, hofft auf den Herrn“1 . Eine solche Witwe wird ja auch um so ehrwürdiger erscheinen, je mehr sie sich ergeben zeigt.
S. d449 Sei also nicht in Trauer über einen Sohn, der dir die Himmelskrone bringen soll, für den du Belohnung erwartest. Da hast ja nur geliehenes Gut zurückerstattet, wenn du das zurückgibst, was dir anvertraut war. Mache dir also keine weiteren Sorgen, wenn du deinen Besitz in einer unverletzlichen Schatzkammer hinterlegt hast. Wenn du dir aber auch klar würdest darüber, was das Leben hienieden ist, und was das zukünftige, und dass dieses Leben nur ein Spinngewebe ist und ein Schatten, das jenseitige aber von ewiger Dauer, so würdest du keine weiteren Trostgründe mehr brauchen. Jetzt ist dein Kind von allen Wechselfällen des Lebens befreit. Wäre es aber am Leben geblieben, so wäre es vielleicht gut, vielleicht aber auch schlecht geworden. Oder siehst du nicht, wie viele Eltern ihre eigenen Kinder verstoßen? Und wie viele gezwungen sind, Kinder zu haben und zu behalten, die noch schlimmer sind als andere, die verstoßen wurden? Das alles wollen wir bedenken, und uns daraus eine Lehre ziehen. So werden wir nicht bloß dem Verstorbenen nützen, sondern auch bei den Menschen großes Lob ernten, und von Gott noch größeren Lohn für unsere Ergebung erhalten, sowie die ewigen Güter erlangen, deren wir alle teilhaftig werden mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, der die Ehre und die Macht besitzt in alle Ewigkeit. Amen!
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1 Tim 5,5 ↩