5.
Darum also hat die Jungfrau nichts gesagt; dagegen erschien der Engel zur rechten Zeit. Warum aber, fragst du, hat er es nicht auch bei der Jungfrau so gemacht, und hat ihr nicht erst nach der Empfängnis seine Botschaft gebracht? Damit sie nicht erschreckt und ganz verwirrt würde. Wenn ihr nämlich der Sachverhalt nicht ganz klar gewesen wäre, so hätte man fürchten müssen, sie würde sich mit Selbstmordgedanken tragen, würde zum Strick oder zum Schwert greifen, wenn sie die Schmach nicht hätte zu ertragen vermocht.1 In Wirklichkeit verdient die Jungfrau Bewunderung, und Lukas zeigt uns die Größe ihrer Tugend, indem er sagt, dass sie bei dem Engelsgruß sich nicht sogleich der Freude überließ und die Botschaft nicht angenommen, dass sie vielmehr verwirrt ward und fragte, was dieser Gruß bedeute? Bei solcher Seelenverfassung wäre sie vielleicht vor lauter Mutlosigkeit gar in Verzweiflung geraten, wenn sie an die2 Schande dachte; denn sie konnte doch kaum erwarten, dass sie, was immer sie sagen würde, irgend jemand überzeugen könnte, sie habe keinen Ehebruch3 begangen. Um also solches zu verhüten, erschien der Engel schon vor der Empfängnis. Jener Schoß sollte nicht in Aufruhr sein, in den der Schöpfer des Weltalls einziehen wollte. Von allen Verwirrungen sollte die Seele frei sein, die gewürdigt war, bei solchen Geheimnissen mitzuwirken. Darum also erschien der Engel der Jungfrau vor der Empfängnis, dem Joseph aber erst zur Zeit der herannahenden Geburt.
Das haben manche nicht verstanden, die zu wenig unterrichtet waren, und sagten, es sei ein Widerspruch S. 68vorhanden zwischen Lukas, der sage, der Engel habe Maria die Botschaft gebracht, und Matthäus, der ihn dem Joseph erscheinen lässt; sie sahen nicht, das beides wahr ist. Das müssen wir durch das ganze Evangelium hindurch im Auge behalten; denn auf diese Weise können wir viele scheinbare Widersprüche lösen.
Es kam also der Engel, als Joseph bereits unruhig geworden war. Denn sowohl dessentwegen, was ich früher gesagt, als auch damit seine Gottesfurcht offenbar würde, hatte der Engel gezögert zu kommen. Als es aber Zeit war, der Sache ein Ende zu machen, erschien er. „Während er dies bei sich überlegte, erschien der Engel dem Joseph im Traume.“ Siehst du, wie gut der Mann war? Nicht nur hat er seine Braut nicht bestraft, er hat auch mit niemand davon geredet, nicht einmal mit ihr selber, an deren Treue er zweifelte, sondern einzig und allein mit sich selbst ging er zu Rate; ja er suchte die Ursache seines Vorhabens sogar vor der Jungfrau selbst noch zu verbergen. Es heißt nämlich nicht: Er wollte sie davonjagen, sondern: sie ihres Versprechens entbinden; so milde und maßvoll war der Mann. „Während er solches bei sich überlegte, erschien der Engel im Traume.“ Warum denn nicht am hellen Tag, wie den Hirten, dem Zacharias und Maria? Weil der Mann voll Glauben war und eine solche Erscheinung nicht nötig hatte. Die Jungfrau, der etwas so außerordentlich Großes angekündigt ward, und mehr noch Zacharias, bedurften schon zum voraus einer außergewöhnlichen Erscheinung; die Hirten aber deshalb, weil sie gar ungebildete Leute waren. Er aber, dessen Seele zwar von bösen Zweifeln gequält wurde, der aber doch bereitwillig der erlösenden Hoffnung Raum geben wollte, wenn nur jemand kommen und ihm den Weg dahin zeigen möchte, er nimmt die Aufklärung auch nach der Empfängnis4 bereitwillig an. Darum bringt der Engel die Aufklärung erst, nachdem Joseph bereits Verdacht geschöpft, damit eben dieser Umstand ihm als Beweis für das Gesagte diene. Denn mit niemanden über etwas S. 69reden, und dann das, was er nur in Gedanken mit sich herumgetragen, aus dem Munde des Engels hören, war für ihn ein ganz unzweifelhaftes Zeichen, dass derselbe von Gott gesandt sei. Er allein kann ja die geheimen Gedanken des Herzens schauen. Sieh also, wozu dies alles gut war: der fromme Sinn Josephs hat sich geoffenbart; was ihm zur rechten Zeit gesagt ward, bestärkt ihn in seinem Glauben, ohne Verdacht zu wecken, da es ihm klar machte, dass ihm nur widerfahren sei, was jedem Manne hätte widerfahren können.
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Chrysostomus spricht hier nur hypothetisch und setzt den Fall rein menschlich betrachtet, um den Gedanken seinen Zuhörern verständlich zu machen, will aber damit offenbar nicht sagen, dass er den Fall für wirklich möglich gehalten hätte. Gleichwohl wirkt für unsere Zeit auch der rein bedingte Fall eher abstoßend. ↩
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zukünftige ↩
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im uneigentlichen Sinn, da sie ja erst verlobt war ↩
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wörtlich: Geburt=tokon ↩