4.
V. 10: „Nur daß wir der Armen eingedenk seien, was ich auch wirklich zu tun mich beeifert habe.“
Was bedeuten diese seine Worte? Wir haben uns, so sagt er, für das Predigtamt der Erde geteilt, und ich habe nach Gottes Willen die Heiden, sie aber die Juden bekommen. Zur Unterstützung der Armen jedoch, die es bei den Juden gibt, habe ich ihnen meine eigenen Mittel beigesteuert. Wenn wirklich Streit und Zwietracht (zwischen ihnen) geherrscht hätte, würden sie dies wohl nicht angenommen haben. — Wer sind denn aber diese Armen? Viele Juden, welche in Palästina dem Glauben sich zugewandt hatten, waren all ihrer Habe beraubt und überall ausgejagt worden. Das erklärt er im Hebräerbriefe, wenn er sagt: „Denn ihr habt auch den Raub eures Besitztums mit Freude hingenommen.“1 Weiter erklärt er es im Briefe an die Thessaloniker, wo er deren Mannesmut laut rühmt und spricht: „Ihr seid Nachahmer geworden der Kirchen Gottes, welche in Judäa sind; denn ihr habt dasselbe S. 67 erlitten von den eigenen Stammesgenossen, wie sie von den Juden.“2 Er bemüht sich, auf alle mögliche Weise zu zeigen, daß die hellenischen Gläubigen von ihren im Heidentum verbliebenen Landsleuten nicht solche Verfolgungen erfuhren, wie die Judengläubigen von Seiten ihrer Stammesgenossen; denn dieses Volk ist das hartnäckigste von allen.3 Aus diesem Grunde gibt er sich viele Mühe; um ihnen jegliche Fürsorge angedeihen zu lassen, schreibt er an die Römer und Korinther.4 Und er sammelt nicht bloß Geld, sondern verteilt es auch,5 wie er selbst berichtet: „Jetzt aber reise ich nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen.“6 Sie litten nämlich sogar an dem nötigsten Unterhalte Mangel. Dasselbe betont er nun auch hier, indem er bemerkt: Ich hielt dafür, ihnen hierin beizustehen, und nahm es auf mich und blieb nicht zurück. — Nachdem er so seine Eintracht und Sinnesgleichheit dargetan hat, sieht er sich endlich veranlaßt, an jene Unterredung zu erinnern, die er in Antiochien mit Petrus gehabt. Er schreibt:
V. 11: „Als Petrus nach Antiochien gekommen war, widerstand ich ihm Aug in Augt weil er tadelnswürdig war. V. 12: Bevor nämlich einige Leute aus der Umgebung des Jakobus kamen, aß er mit den Heiden zusammen; als sie aber gekommen waren, zog er sich zurück und sonderte sich ab, da er die fürchtete, die aus der Beschneidung waren.“
Viele, welche den Brief an dieser Stelle nur oberflächlich lesen, meinen, Paulus bezichtige (hier) den Petrus der Heuchelei. Aber dem ist nicht so, durchaus nicht, Gott bewahre! Denn wir werden finden, daß S. 68 viel Klugheit von Seiten Petri und Pauli hier verborgen liegt zum Besten der Hörer. Zuvor jedoch müssen wir einiges sagen über den frischen Mut des Petrus und wie er sich stets vor allen Jüngern hervorgetan hat. Davon hat er ja auch seinen Namen erhalten, von der unerschütterlichen Festigkeit seines Glaubens nämlich.7 Als z. B. alle zusammen gefragt wurden, drängte er sich schnell vor und erwiderte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“8 Damals wurden ihm auch die Schlüssel des Himmelreiches anvertraut. Ebenso scheint er auf dem Berge allein geredet zu haben.9 Und als die Rede auf die Kreuzigung kam und die übrigen (Apostel) schwiegen, da (schwieg er nicht, sondern) sagte: „Ferne sei es von dir!“10 Mögen diese Worte auch keine besonders reife Einsicht verraten, so jedenfalls eine glühende Liebe. Kurz, überall sehen wir, daß er die anderen an Feuereifer übertrifft und sich kühn in den Gefahren vorwagt. Als der Herr am Seegestade erschien und die anderen sich mit dem Schiffe abmühten, konnte er das Landen des Fahrzeuges nicht erwarten.11 Und nach der Auferstehung, da die Juden tobten und rasten und sie in Stücke zu zerreißen drohten, wagte Petrus als erster seine Stimme zu erheben und zu verkünden, daß der Gekreuzigte von der Erde hinweg in den Himmel aufgenommen worden sei.12 Es ist aber nicht gleich, ob man die verschlossene Tür öffnet, d. h. mit etwas den Anfang macht, oder ob man erst nachträglich sich mutig zeigt. Ein Mann nun, der den Pöbelscharen sein eigenes Leben preisgibt, wie sollte der jemals heucheln können? Ein Mann, der, ohne den Mut sinken zu lassen, Schläge und Bande ertrug, und zwar am Anfang der apostolischen Laufbahn, inmitten der Hauptstadt,13 wo die Gefahr am meisten drohte, wie hätte der nach so langer Zeit in Antiochia, wo keine Gefahr bestand und sein Ansehen durch das Zeugnis S. 69 seiner Werke um vieles zugenommen hatte, die Judenchristen noch scheuen sollen? Ein Mann, der die Juden selbst nicht fürchtete, nicht einmal am Anfang und in der Hauptstadt, wie hätte der nach so langer Frist, in einer fremden Stadt, die Überläufer aus dem Judentum fürchten sollen? — Diese Worte Pauli richten sich also nicht gegen Petrus, sondern sind aus derselben Gesinnung heraus gesprochen, in welcher er sagte: „Was aber die betrifft, welche etwas zu sein schienen — wer sie sonst waren, tut mir nichts zur Sache.“ — Aber damit wir mit diesen Worten nicht länger in Verlegenheit sind, ist es nötig, den geheimen Grund hierfür anzugeben. Wie gesagt, ließen die Apostel in Jerusalem die Beschneidung zu, denn es schien nicht angezeigt, auf einmal mit dem Gesetze zu brechen. Als sie aber nach Antiochien gekommen waren, beobachteten sie fürderhin nichts Derartiges mehr, sondern lebten unterschiedslos mit den Heidenchristen. Auch Petrus machte es damals so. Da kamen mit einmal Leute aus Jerusalem, welche seine dortige Predigtweise kannten, und nun tat er es nicht mehr, aus Furcht, bei ihnen anzustoßen, sondern zog sich zurück. Die Absicht dabei war eine doppelte; er wollte 1. den Judenchristen nicht Ärgernis geben und 2. dem Paulus eine gute Gelegenheit bieten, ihn zurechtzuweisen. Denn wenn er, der in Jerusalem die Erlaubtheit der Beschneidung gepredigt hatte, in Antiochien sein Verhalten änderte, konnte bei den Judenchristen der Verdacht entstehen, er tue dies aus Furcht vor Paulus. Die Schüler hätten ihm eine so große Nachgiebigkeit sehr verargt, und es wäre ein nicht geringes Ärgernis daraus entstanden. Bei Paulus freilich, der die Verhältnisse genau kannte, hätte sein verändertes Benehmen nie einen solchen Verdacht hervorgerufen; denn er wußte ja um die Absicht, in der es geschah. Deswegen legt Paulus tadelnd los, und Petrus nimmt es geduldig hin, damit, wenn der Meister sich den Vorwurf ohne Widerrede gefallen lasse, die Schü- S. 70 ler um so leichter umgestimmt würden.14 Ohne diesen Vorfall würde Paulus mit seinen Ermahnungen wohl nicht viel ausgerichtet haben. So aber nahm er hiervon Veranlassung zu seinen ziemlich einschneidenden Vorwürfen und flößte (dadurch) den Schülern Petri größere Furcht ein. Wenn Petrus angesichts dieser Vorwürfe widersprochen hätte, wäre ihm mit Recht die Schuld gegeben worden am Mißlingen des ganzen Planes. Nun aber, da jener tadelte und dieser schwieg, bemächtigte sich der Judenchristen eine große Furcht. Deswegen nimmt er auch den Petrus so hart mit.
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Hebr. 10, 24. ↩
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1 Tess. 2, 14. ↩
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Wie oft ist in der Hl. Schrift die dura cervix des Volkes Gottes getadelt! ↩
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Röm. 15, 25—27; 1 Kor. 16, 1—3. ↩
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Paulus überbrachte zweimal gesammelte Liebesgaben nach Jerusalem: Apg. 11, 30 und 24, 17. ↩
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Röm. 15, 25. ↩
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Petrus-Fels. ↩
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Matth. 16, 16. ↩
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Ebd. 17, 4. ↩
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Ebd. 16, 22. ↩
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Ebd. 14, 28 ff. ↩
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Apg. 2, 14 ff. ↩
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Ebd. 4, 5. ↩
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Dieser Auflassung der vielbesprochenen Stelle durch den hl. Chrysostomus kann nicht in allen Punkten beigepflichtet werden. ↩