Das Leben der heiligen Väter [Einleitung].
S. 319 Viele haben viel und mancherlei Schriften zu verschiedenen Zeiten in dieser Welt hinterlassen; die einen, durch Gottes Gnadenhauch vom Himmel her bewogen, zur Erbauung und Bestärkung für jene, die treulich festhalten an den Lehren des Erlösers; die andern trieben ihr Unwesen in verdorbener Absicht, um Menschen, die nach eitlen Dingen lüstern sind, Vergnügen zu bereiten; wieder andere, durch den Einfluß des Teufels, der alles Gute haßt, verblendet und angestachelt, suchten unachtsame Menschen zu schädigen, deren Sinn zu verwirren aus Wut über ihren ehrwürdigen Wandel und der makellosen katholischen Kirche ein Schandmal anzuheften. Ich glaube darum,1 trotz meiner Armseligkeit, Deinem Verlangen nach Belehrung und geistigem Fortschritt, hochedler Mann, entgegenkommen zu müssen. Im dreiunddreißigsten Jahre meines Wandels mit den Brüdern als Mönch, im zwanzigsten meines bischöflichen Amtes, im sechsundfünfzigsten meines ganzen Lebens hab' ich darum Deinem Wunsche gemäß in diesem Buch ausführlich erzählt, was ich aus fremdem Munde zu hören bekam oder aus eigener Anschauung weiß von den Vätern, von Männern und Frauen, mit denen ich selbst zusammentraf in der ägyptischen Wüste, in Libyen, in der Thebais und in Syene, darunter auch jene von Tabennä, ferner in Mesopotamien, Palästina, Syrien, den Länderstrichen des Westens, in Rom und Kampanien und den angrenzenden Gebieten. Dies alles hab' ich aufgezeichnet, damit Du in würdiger Weise gemahnt werdest, für Deine Seele zu sorgen; im Besitz eines nie versiegenden Arzneimittels wider alle S. 320 Nachlässigkeit die böse Begierlichkeit überwindest, wenn sie Dich einschläfern will; allen Wankelmut und kleinlichen Sinn für irdische Dinge, alles ängstliche Zaudern in Deinem Charakter, Jähzorn, Verwirrung, Trauer, grundlose Furcht und das Vertrauen auf diese Welt aus Deinem Innern entfernst; voll unablässiger Sehnsucht an Frömmigkeit zunehmest, Dein eigener Führer seiest und Deiner Untergebenen, vor allem jedoch der überaus frommen Kaiser. Dadurch sollen alle, die Christus lieben, angeeifert werden, nach Vereinigung mit Gott zu streben. Täglich sollst Du die Auflösung Deines Leibes erwarten, wie geschrieben steht: "Gut ist es, aufgelöst zu werden und mit Christo zu sein"2 und wiederum: "Besorge deine Arbeit für den Ausgang und bestelle dein Feld".3 Denn wer immer eingedenk bleibt, daß der Tod kommen muß, und nicht zögert, der wird nicht in schwere Sünde fallen.4 Unterschätze nicht den Lehrgehalt dieser Berichte und verachte nicht die schmucklos einfältige Sprache! Denn es ist nicht Aufgabe der göttlichen Lehre, mit Wissenschaftlichkeit zu prunken, sondern durch die Kraft der Wahrheit den Geist zu gewinnen, wie geschrieben steht: "Öffne deinen Mund dem Worte Gottes!"5 und wieder: "Laß dir die Rede der Alten nicht entgehen, denn auch sie haben von den Vätern gelernt".6
Um diese Mahnung, heilsbeflissener Mann Gottes, doch teilweise zu befolgen, hab' ich viele der Heiligen aufgesucht, nicht aus geschäftiger Neugier, und ich legte dreißig Tagereisen zurück, sogar doppelt so weiten Weg, durchwanderte mit Gottes Hilfe zu Fuß das ganze Römerreich und nahm die Reisebeschwerden gern auf mich, wenn es galt, einen Gottesfreund zu treffen und etwas zu gewinnen, was mir mangelte. Wenn Paulus, der mich an Wandel und Wissen, Einsicht und Glauben unendlich überragt, den weiten Weg von Tarsus nach Judäa zurücklegte, nur um Petrus, Jakobus S. 321 und Johannes kennen zu lernen, und das gleichsam rühmend erwähnt, um durch das Beispiel der eigenen Mühsale jene anzufeuern, die tatenlos und träg dahinleben, indem er sagt: "Ich ging hinauf nach Jerusalem, um Kephas zu sehen";7 wenn er nicht damit zufrieden war, seine Tugend rühmend zu hören, sondern auch Verlangen trug, sein Angesicht zu schauen - wieviel mehr mußte dann ich, der zehntausend Talente schuldig ist, ebenso handeln! Ich tat es ja nicht, um jenen eine Gunst erweisen zu können, sondern zum eigenen Vorteil. Auch jene, die das Leben der Väter, Abrahams und der übrigen, des Moses und Elias, aufgezeichnet haben, taten es nicht diesen zu Lobe, vielmehr den Lesern zu Nutzen.
Das bedenk', o Lausus, getreuester Knecht Christi, mahne Dich selbst und merk' auf meine einfältige Rede, damit Dein frommes Herz im Guten bekräftigt werde; denn naturgemäß wird es von bösen Einflüssen, sichtbaren und unsichtbaren, unstet umhergetrieben und kann nur Ruhe finden in beständigem Gebet und Sorge für sich selbst. Viele Brüder, die stolz waren auf Kasteiungen und Almosenspenden, sich der Ehelosigkeit und Jungfräulichkeit rühmten und durch eifrige Betrachtung des göttlichen Wortes sich gefeit und gewappnet glaubten, sanken wieder in Leidenschaft zurück, weil sie unter dem törichten Vorwand frommer Geschäftigkeit sich in viele schlechte Dinge verstrickten, so den Sinn für edle Taten verloren und die Sorge für das eigene Seelenheil vergaßen.
Ich ermahne Dich also, standhaft zu sein und nicht nach Vermehrung des Reichtums zu trachten; statt dessen teile davon wie bisher reichlich den Armen aus und mach' ihn auf diese Weise Deiner Tugend dienstbar! Du hast ja nicht, um Menschen zu gefallen, Deinen freien Willen vorschnell und in blindem Eifer durch einen Eid gebunden, wie manche tun, die von Ehrgeiz und Eifersucht bewogen, dem eigenen Willen durch einen Eid das Essen und Trinken wehren, dann aber aus Leichtsinn und Lebenslust jämmerlich zurückfallen und S. 322 Eidbrecher werden. Wenn Du mit Vernunft alles gebrauchest und mit Vernunft Dich enthältst, wirst Du niemals sündigen; denn die Vernunft in unserem Innern ist etwas Göttliches; sie weist die schädlichen Regungen ab und fördert die nützlichen; denn "für den Gerechten gibt es kein Gesetz".8 Besser ist es, mit Vernunft Wein zu trinken, als mit Hochmut Wasser. Betrachte nur die heiligen Männer, die mit Vernunft Wein tranken und daneben die Weltleute, die ohne Vernunft Wasser tranken; dann wirst Du nicht mehr Speise und Trank tadeln und loben, sondern die Gesinnung jener, die beides gut oder schlecht gebrauchen. Wein trank auch Joseph bei den Ägyptern, doch litt er keinen Schaden am Verstande, denn er hatte seinen Sinn gestählt. Pythagoras dagegen, Diogenes und Plato tranken Wasser; desgleichen die Manichäer und die ganze Schar jener, die Philosophen spielen wollten; diese kamen soweit in ihrem frechen Wahne, daß sie Gott nicht kannten und Götzenbilder anbeteten. Auch der Apostel Petrus und seine Genossen tranken Wein; deshalb rügten die Juden sogar den Heiland, ihren Lehrer, mit den Worten: "Warum fasten Deine Jünger nicht wie jene des Johannes?"9 und wiederum beschimpften sie seine Jünger und warfen ihnen vor: "Euer Meister ißt und trinkt mit den Zöllnern und Sündern".10 Ohne Zweifel meinten sie da nicht Brot und Wasser, sondern Fleisch und Wein; und als sie wieder unvernünftigerweise das Wassertrinken bewunderten und das Weintrinken tadelten, sprach der Heiland zu ihnen: "Johannes kam auf dem Wege der Gerechtigkeit und aß und trank nicht" - selbstverständlich Fleisch und Wein, denn ohne jede Nahrung hätte er nicht leben können - "und sie sagen: Er hat einen Teufel. Es kam der Menschensohn und aß und trank und sie sagen: Sehet, ein gefräßiger Mensch und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder"11 weil er nämlich aß und trank. Was sollen also wir tun? Laß uns weder den Tadlern noch den Lobrednern S. 323 folgen, sondern fasten wir mit Vernunft wie Johannes, auch wenn sie sagen: Sie haben einen Teufel. Und trinken wir in Weisheit Wein mit Jesu, wenn der Leib dessen bedarf, auch wenn sie sagen: Sehet da, welch gefräßige Menschen und Weinsäufer! Denn weder essen noch enthaltsam sein ist etwas in Wahrheit, sondern nur der Glaube, der durch die Liebe sich in Werken offenbart.12 Wenn der Glaube jede Handlung begleitet, dann verfällt, wer ißt und trinkt, nicht dem Gerichte, "denn was nur immer aus dem Glauben stammt, ist ohne Sünde".13 Weil jedoch ein jeder sündhafte Mensch behaupten wird, er habe den Glauben, wenn er zum Beispiel in falscher Überzeugung mit verdorbenem Gewissen an den Geheimnissen teilnimmt, darum hat der Heiland den Auftrag erteilt: "An ihren Früchten sollt ihr sie kennen".14 Die Frucht jener, die nach Vernunft und Gewissen ihren Wandel bemessen, ist aber, wie der Apostel Gottes lehrt, "Liebe, Freude, Friede, Langmut, Milde, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit";15 Paulus selber sagt ja: "Denn die Frucht des Geistes" ist dies und das. Wer solche Früchte zu bringen strebt, wird niemals unüberlegt, zwecklos oder zur unrechten Zeit Fleisch essen und Wein trinken noch mit jemand zusammenwohnen, der ein schlechtes Gewissen hat, wie der nämliche Paulus sagt: "Jedermann, der am Wettkampfe teilnehmen will, enthält sich von allem".16 Ist sein Leib gesund, so wird er Fettes vermeiden; ist er schwach und krank, von Schmerz und Kummer gebeugt, so wird er dankbar gegen Gott Speise und Trank als Heilmittel gebrauchen und alles meiden, was der Seele schädlich ist: Zorn und Neid, Ehrgeiz und Sorge, falschen Argwohn und üble Nachrede.
Nachdem ich davon hinreichend gehandelt habe, will ich Deinem Eifer zuliebe noch eine Mahnung beifügen. Meide, soviel nur möglich, die Gesellschaft von Menschen, deren Einfluß nicht besser macht und die auf S. 324 ungeziemende Weise die Haut schmücken, mögen sie rechtgläubig oder gar Häretiker sein; diese schaden durch ihre Heuchelei, wenn auch ihr graues Haar und die Runzeln ihres Angesichtes ein reifes Alter andeuten. Und sollten sie Deinem edlen Charakter nichts anhaben können, zum mindesten wirst Du sie verlachen und so zu Stolz und Überhebung verleitet werden; und auch das ist ein Schaden für Dich. Wie man ein helles Fenster aufsucht, wenn man eine Schrift mit feinen Buchstaben entziffern will, so suche den Umgang mit heiligen Männern und Frauen, damit Du an solchem Maßstäbe Dein eigenes Herz ergründest und es erkennest, wenn Du leichtsinnig und sorglos werden solltest. Ein blühendes Angesicht mit grauem Haar, reinliche Kleidung, bescheidenes Wesen, bedachtsame Rede und heiterer Sinn werden Dich aufrichten, wenn Dich Trübsal betraf. "Des Mannes Kleid und seiner Füße Tritt und seiner Zähne Lachen zeugt von ihm",17 sagt die Weisheit.
So will ich denn anheben zu erzählen und jener sowohl gedenken, die hausten in Städten und Dörfern als auch jener in Einsiedeleien. Denn nicht um den Ort, um die Art ihres Lebens soll es sich handeln.
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Die ersten Worte dieser Einleitung oben: (xxx) usw. zusammen mit der Stelle (xxx) erinnern an den ersten Satz des Lukasevangeliums. Im Urtexte stehen sie innerhalb des gleichen Satzgefüges, das übrigens erst mit dem Schriftwort aus Sirach (8,9) auf S. 6 [320] endet. ↩
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Vgl. Phil 1,23. ↩
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Vgl. Spr 24,27. ↩
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Vgl. Sir 7,40 ↩
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Spr 24,76 (LXX).. ↩
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Sir 8,9 f ↩
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Gal 1,18. ↩
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1Tim 1,9. ↩
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Mk 2,18. ↩
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Mt 9,11. ↩
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Mt 11,18 f.; vgl. 21,32. ↩
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Vgl. Gal 5,6. ↩
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Röm 14,23. ↩
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Mt 7,16. ↩
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Gal 5,22. ↩
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1Kor 9,25. ↩
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Sir 19,30 (LXX). ↩