71. Der Bruder.
Von dem Bruder, der von Jugend auf bis zum heutigen Tage mit mir beisammen ist,1 will ich jetzt einiges sagen und dann das Buch beschließen.
An diesem nahm ich lange Zeit hindurch wahr, daß er nicht aus Leidenschaft aß und nicht aus Leidenschaft fastete; daß er, wie mir scheint, die Geldgier bezwang und im wesentlichen auch den Ehrgeiz; daß er zufrieden war mit dem, was er hatte, mit Kleidern keine Hoffart trieb; Dank sagte, wenn er Zurücksetzung erfuhr; für edle Freunde willig Opfer brachte; tausendmal und öfter von Teufeln angefochten wurde, so daß ihm eines Tages ein Teufel die Verheißung gab: „Versprich mir, nur ein einziges Mal zu sündigen, so darfst du verlangen, was du willst in dieser Welt, ich tu' dir's.“ Und wieder einmal - hat er mir erzählt - da ließ er ihm vierzehn Nächte nicht Ruhe, zog ihn am Fuß und S. 439 begann zu reden: „Bete Christum nicht an und halte dich ferne von ihm!“ Darauf gab ihm jener die Antwort: „Eben deshalb bet' ich ihn an und will ihn noch unendlich öfter anbeten und lobpreisen, weil du darob in Wut gerätst.“ Hundertsechs Städte betrat er und nahm in den meisten Aufenthalt; ein Weib hat er niemals erkannt durch Gottes Erbarmung, nicht einmal im Traum, so heiß er auch zu kämpfen hatte. Dreimal erhielt er, soviel ich weiß, durch einen Engel die nötige Nahrung. Eines Tages, als er tief in der Wüste war und nicht ein Krümmchen hatte, fand er in seinem Schafpelz drei warme Brote, wieder einmal Wein und Brote; wieder einmal vernahm er eine Stimme: „Du leidest Mangel; geh' zu dem und diesem! Der wird dir Öl und Getreide geben!“ Und als er hinkam, zu dem er gesandt war, sagte dieser: „Bist du der Mann?“ Er sagte: „Ja“. Der andere darauf: „Es hat dir jemand aufgetragen, dreißig Scheffel Getreide zu holen und zwölf Sester Öl.“ Ich will mich dessen rühmen,2 der so beschaffen war; oft sah ich ihn Tränen vergießen um fremder Armut willen, und was nur immer sein Eigentum war, das gab er allen bis auf das nackte Leben. Auch sah ich ihn weinen, wenn ein anderer in Sünde fiel, und er führte den Sünder zur Reue durch seine Zähren. Einst hat er mir eidlich versichert: „Ich habe Gott gebeten, er solle niemand, vor allem keinen Reichen oder Schlechten, bewegen, mir zu schenken, was ich nötig habe.“