XXIII. KAPITEL. Von der Furcht.
Der Name Furcht hat einen doppelten Sinn. Natürlich ist die Furcht, wenn die Seele sich nicht vom Leibe trennen will wegen der ihr ursprünglich vom Schöpfer eingepflanzten natürlichen Zuneigung und Angehörigkeit, derentwegen sie naturgemäß Furcht und Angst hat und den Tod verschmäht. Ihre Definition lautet: Naturgemäße Furcht ist eine mit Beklommenheit am Sein S. 179 festhaltende Macht 1. Denn, ward vom Schöpfer alles aus dem Nichtsein ins Sein gerufen, so hat es naturgemäß ein Verlangen nach dem Sein und nicht nach dem Nichtsein. Diesem aber eignet von Natur das Streben nach dem, was [das Sein] erhält. Es hatte also auch der menschgewordene Gott-Logos dieses Verlangen, er zeigte zu dem, was die Natur erhält, eine Zuneigung, indem er nach Speise und Trank und Schlaf begehrte und naturgemäß davon Gebrauch machte, gegen das aber, was ihr (═ der Natur) verderblich ist, eine Abneigung, so daß er zur Zeit des Leidens freiwillig die Beklommenheit vor dem Tode durchmachte. Wohl geschah das, was geschah, durch ein Naturgesetz, aber doch nicht wie bei uns auf gezwungene Weise. Denn frei wollend nahm er das Natürliche an. Darum gehört das Zagen, die Furcht und Angst zu den natürlichen, untadelhaften und keiner Sünde unterliegenden Affekten.
Es gibt ferner eine Furcht, die aus Ratlosigkeit, Mißtrauen und Unkenntnis der Todesstunde entspringt, so wenn wir uns nachts fürchten, wenn ein Geräusch entsteht. Diese ist widernatürlich, und wir definieren sie so: Widernatürliche Furcht ist eine unvorhergesehene Beklommenheit. Diese hat der Herr nicht zugelassen 2. Darum fürchtete er sich auch nie außer zur Zeit des Leidens, und wenn er oft gemäß der Heilsordnung sich selbst betrübte. Ihm war ja die Zeit nicht unbekannt.
Daß er sich aber wirklich gefürchtet, sagt der heilige Athanasius 3 in seiner Abhandlung gegen Apollinaris: „Darum sprach der Herr: Jetzt ist meine Seele erschüttert 4. Das ‚Jetzt‘ aber heißt: Als er wollte. Gleichwohl zeigte er an, was wirklich der Fall war. Denn er bezeichnete nicht das Nichtwirkliche als wirklich, als ob das, was [von ihm] gesagt würde, nur zum Schein geschähe. Denn in Wirklichkeit und Wahrheit S. 180 geschah alles.“ Und später: „Keineswegs läßt die Gottheit ein Leiden zu ohne einen leidenden Körper, noch zeigt sie Erschütterung und Trauer ohne eine betrübte und erschütterte Seele, noch ängstigt sie sich und betet ohne einen sich ängstigenden und betenden Geist. Nein. Denn wenn auch das, was geschah, nicht durch ein Erliegen seiner Natur eintrat, so geschah es doch zum Beweise dessen, was er wirklich war 5.“ Daß aber das, was geschah, nicht durch ein Erliegen seiner Natur eintrat, beweist der Umstand, daß er dies nicht unfreiwillig litt.
-
Max. Conf., Disputatio cum Pyrrho, ed. Combefis II, 166. ↩
-
Das kursiv Gedruckte aus Max. Conf., l. c. ↩
-
Contr. Apollinar. 1, 16 (Migne, P. gr. 26, 1124 A). Doctr. Patr. de incarn. Verb. p. 98, XXII. Die sog. zwei Bücher gegen Apollinaris sind unecht (b0ardenhewer, Patrologie³, Freib. 1910, S. 213). ↩
-
Joh. 12, 27. ↩
-
Contr. Apollinar. 2, 13 (Migne, P. gr. 26, 1153 B). Doctr. Patr. de incarn. Verb. p. 98, XXIII. ↩