Cap. 1
S. 231 Wenn das letzte und höchste Ziel aller Tugend dahin geht, dem geistigen Nutzen des Nebenmenschen in möglichster Ausdehnung zu dienen, so darf man als eine der schönsten Tugenden das milde Maßhalten bezeichnen, welches nicht einmal diejenigen verletzen will, die seiner Verurtheilung unterliegen, während es dieselben gleichzeitig gerade durch die Verurtheilung wieder der Lossprechung würdig zu machen strebt. Diese Milde ist es einzig, welcher die Kirche, die der Herr in seinem Blute gestiftet hat, ihre Ausbreitung verdankt. Sie ahmt den himmlischen Wohlthäter nach; indem sie auf die Rettung Aller bedacht ist, verfolgt sie jenes heilbringende Ziel mit einer Milde, daß die Herzen nicht zurückweichen, die Geister nicht erschrecken können.
In der That muß ja auch derjenige, welcher die Fehler menschlicher Schwäche bessern will, diese Schwäche selbst ertragen; er muß sie gewissermaßen auf seine Schultern legen, nicht aber verdrießlich abwerfen. Lesen wir doch auch, daß jener Hirt des Evangeliums das verirrte, müde Schaf heimgetragen, aber nicht abgeworfen habe. Darum S. 232 sagt auch Salomon: „Sei nicht allzu gerecht“,1 denn weises Maßhalten muß die Gerechtigkeit sänftigen. Wie möchte sich sonst Jemand dir zur Heilung anvertrauen, wenn du ihm Widerwillen entgegenbringst, wenn er glauben muß, daß er seinem Arzte nicht Mitleid, sondern Verachtung einflößt?
Deßhalb hat der Herr Jesus Mitleid mit uns getragen, um uns nicht abzuschrecken, sondern zu sich zu rufen. Er kam voll Sanftmuth und Demuth, und so sprach er: „Kommet zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Der Herr Jesus erquickt die Mühseligen, er weis’t sie nicht zurück; darum hat er denn auch solche Jünger sich erwählt, die im richtigen Verständnisse seines göttlichen Willens das Volk Gottes sammeln, aber nicht zurückstoßen. Es erhellt somit, daß diejenigen nicht als Christi Jünger gelten können, welche der Meinung sind, daß man harten und stolzen Grundsätzen statt milder und demüthiger folgen müsse. Sie verweigern ja Anderen die Barmherzigkeit des Herrn, während sie selbst sie suchen: so sind die Lehrer der Novatianer, welche sich als „die Reinen“ bezeichnen.2
Kann es denn ein stolzeres Treiben geben, da doch die Schrift sagt: „Niemand ist rein von Schuld, nicht einmal das Kind von einem einzigen Tage;“3 während David S. 233 ausruft: „Von meiner Missethat reinige mich!“ Sind denn diese Menschen etwa heiliger als David, aus dessen Geschlecht der Herr im Geheimniß der Menschwerdung hat wollen geboren werden? dessen Tochter jenes himmlische auserwählte Gefäß ist, das im jungfräulichen Schooße den Heiland der Welt empfangen hat? Gibt es denn etwas Härteres, als Buße aufzulegen, ohne Nachlaß zu gewähren? Nimmt man denn nicht den Antrieb zur Buße hinweg, wenn man immerfort die Verzeihung versagt? Kann doch füglich keiner Buße thun, der nicht auf Verzeihung hofft!
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Eccl. 7, 17 [= Ecclesiastes/Prediger; Hebr. 7, 16]. ↩
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Die Novatianer, welche, wie ihr Führer Novatian seinen Bischof Cäcilian, so die ganze katholische Kirche einer zu großen Nachsicht gegen die lapsi aus der decischen Verfolgung beschuldigten, nannten sich selbst in ihrem sectirerischen Hochmuthe die Reinen — καθαροί [katharoi]. — Auch der achte Canon der nicänischen Synode nimmt diese Bezeichnung herüber: „περὶ τῶν ὀνομαζόντων μὲν ἑαυτοὺς καθαρούς [peri tōn onomazontōn men heautous katharous] – in Betreff derjenigen, welche sich selbst die Reinen benennen“ etc. Während die Kirche die Wiederaufnahme der lapsi in die Kirchengemeinschaft gestattete, verweigerten die Novatianer (im Anschlusse an die älteren Montanisten) die Wiederaufnahme gänzlich. ↩
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Ambrosius citirt: „Quia nemo mundus a peccato, nec unius diei infans“ nach den LXX: „Τίς γὰρ ἔσται καθαρὸς ἀπὸ ῥύπου; Οὐδὲ εἷς, ἐὰν καὶ μιᾶς ἡμέρας γένηται ὁ βίος αὐτοῦ ἐπὶ τῆς γῆς“ Job 14,4 [Tis gar estai katharos apo rhypou; Oude heis, ean kai mias hēmeras genētai ho bios autou epi tēs gēs]. ↩