Zweiundfünfzigster Vortrag: Über die Stelle: „Der erste Mensch Adam ward zu einer lebendigen Seele; der letzte Adam ward ein lebendig machender Geist...“ bis: „Fleisch und Blut können nicht Gottes Reich erben noch wird die Verwesung die Unverweslichkeit erben.“ 1 Kor 15,45-50
Zwei Menschen führt uns heute der heilige Apostel vor Augen, die dem Menschengeschlechte den Ursprung verliehen haben: Adam nämlich und Christus; zwei Menschen, gleich an ihrem Körper, aber ungleich an Verdienst; ganz in Wahrheit gleich dem Bau der Glieder nach, aber ebenso in aller Wahrheit ungleich dem Ursprung nach. „Der erste Mensch Adam ward zu einer lebendigen Seele1 , der letzte Adam ward ein lebendig machender Geist“2 . Jener erste ward erschaffen von diesem letzten, von dem er die Seele erhielt3 , damit er lebe. Dieser gestaltete sich selbst als sein eigener Schöpfer4 , da er das Leben nicht von einem andern zu erwarten brauchte, sondern selbst allein allen das Leben verlieh5 . Jener wird gebildet aus wertlosem Erdenstaub, dieser ging hervor aus dem kostbaren Schoße einer Jungfrau. In S. 283jenem wurde die Erde verwandelt in einen Menschen, in diesem ward das Fleisch erhoben zu Gott! Und wozu noch viele Worte? Dieser ist [der wahre] Adam, der nur sein eigenes Bild darstellte, als er jenen damals erschuf. Daher nahm er sowohl dessen Persönlichkeit als seinen Namen an, damit ihm nichts von dem ermangele, was er zu seinem Bilde [an jenem] geschaffen hatte. Er ist also der erste Adam wie auch der letzte Adam: als jener erste hat er einen Anfang, als jener letzte hat er kein Ende, weil dieser letzte in Wahrheit selbst der erste ist, wie er auch selbst sagte: „Ich bin der erste und ich bin der letzte!“6 „Ich bin der erste“, d. h. ohne Anfang; „ich bin der letzte“,d. h. ohne Ende. „Aber nicht“, so heißt es, „ist das Geistige zuerst, sondern das Seelische, darnach das Geistige“7 . Denn früher ist natürlich die Erde als die Frucht; nicht aber ist die Erde so wertvoll wie die Frucht.
Jene verlangt Seufzer und Mühe, diese spendet Nahrung8 und Leben. Mit Recht rühmt sich der Prophet einer solchen Frucht, wenn er spricht: „Unser Land gab seine Frucht“9 . Welche Frucht? Freilich die, von der er an einer andern Stelle sagt: „Von der Frucht deines Leibesa will ich setzen auf deinen Thron“10 . „Der erste Mensch von Erde ist“ heißt es, „irdisch, der zweite Mensch vom Himmel ist himmlisch“11 . Wo sind diejenigen noch, die die Empfängnis einer Jungfrau, die Geburt einer Jungfrau auf gleiche Stufe stellen zu müssen glauben mit der Geburt der anderen Frauen, da doch diese von der Erde ist, jene aber vom Himmel, da doch jene eine Wundertat Gottes ist, jene das Werk schwacher Menschen, da jene sich vollzieht in einem leidensfähigen Körper, diese aber ganz in der ewigen Ruhe S. 284des göttlichen Geistes, ohne eine Erregung des menschlichen Leibes?12 . Der Blutfluß hörte auf, das Fleisch war gelähmt, es schlummerten die Glieder, und der Jungfrau Mutterschoß13 war, als der Himmel in ihr wohnte, ganz wirkungsunfähig, bis der Schöpfer des Fleisches annahm des Fleisches Umhüllung und der himmlische Mensch gebildet war, der nicht nur dem Menschen die Erde, sondern dem Menschen auch den Himmel wiedergeben sollte. Eine Jungfrau empfängt, eine Jungfrau gebiert, Jungfrau bleibt sie immerdar!14 . Das Fleisch bleibt sich seiner Kraft bewußt, kennt aber keine Wehen, da es durch die Geburt nur noch mehr seine Unversehrtheit vergrößert und keine Einbuße seiner Schamhaftigkeit erleidet. Sie ist vielmehr selbst Zeugin ihrer [jungfräulichen] Geburt, da sie keine Geburtswehen kennt.
Als eine ganz neue Mutter staunt sie ob ihrer Teilnahme an den himmlischen Geheimnissen, sie, die in sich nichts sieht, was einer menschlichen Geburt entspricht. Wenn eine solche Geburt Gottes der Magier bekennt durch sein Gechenk15 , sie bekannt durch seine Anbetung, so erwäget, was der Christ denken und glauben muß! Doch laßt uns das folgende vernehmen. „Wie die irdische, so auch die irdischen, und wie die himmlische, so auch die himmlischen“16 . Wie aber werden die, die nicht als solche17 geboren worden sind, als solche befunden werden können?18 . Dadurch, dass sie nicht das bleiben, als was sie geboren sind, sondern dass die das stets bleiben, als was sie wiedergeboren sind! Darum, Brüder, befruchtet der Geist des Himmels den Schoß der jungfräulichen Quelle19 durch sein geheimnisvolles Licht, damit er alle, die die Abstammung von S. 285dem Staube der Erde als irdische geboren hat zu unglücklichem Lose, als himmlische wiedergebäre und sie hinführe zur Ähnlichkeit mit ihrem Schöpfer. Als Wiedergeborene also und als Umgestaltete nach dem Bilde unseres Schöpfers wollen wir erfüllen, was der Apostel uns befiehlt: „Wie wir also das Bild des irdischen trugen, laßt uns auch das Bild des himmlischen tragen!“20 . Mag es [vorher] eine Notwendigkeit gewesen sein, dass wir als Erdgeborene nicht nach dem Himmlischen streben konnten; dass wir als Söhne der Begierlichkeit die Begierlichkeit selbst nicht zu überwinden imstande waren; dass wir, da wir zur Welt gekommen unter der Macht der Fleischeslust, gezwungen waren, die schändliche Herrschaft der Fleischeslust zu tragen; dass wir, einmal aufgenommen in die Wohnung dieses Welt, gefangen waren durch die Macht des Bösen: jetzt, wo wir, wie wir gesagt haben, nach dem Bilde unseres Herrn wiedergeboren sind, wo uns eine Jungfrau21 empfangen hat, der Geist lebendig gemacht hat, die Unschuld uns getragen hat22 , die Unbeflecktheit uns erzeugte, die Reinheit uns ernährte, die Heiligkeit uns belehrte, die Tugend uns erzog, Gott uns zu seinen Söhnen annahm: [jetzt] laßt uns tragen in uns das vollkommene Ebenbild unseres Schöpfers in vollkommener Ähnlichkeit mit ihm! Dies vermögen wir zwar nicht mit der Herrlichkeit, die er allein besitzt, aber wohl in Unschuld, Einfalt, Sanftmut, Geduld, Demut, Barmherzigkeit und Eintracht, durch die er eins mit uns zu werden und zu sein sich würdigte! Es schwinde daher von uns der vergiftende Anreiz der Laster, besiegt sollen in uns werden die todbringenden Lockungen der Sünden; ausgetilgt soll werden die Glut [der Leidenschaften], erstickt soll in uns werden der Urheber der Verbrechen! Von unsern Sinnen soll abgeschüttelt werden alles Blendwerk S. 286irdischer Pracht; weggeworfen müssen werden von unserm Geiste die Trugbilder weltlicher Begehrlichkeit!
Nach der Armut Christi sollen wir streben, die im Himmel ewigen Reichtum besitzt. Ganz heilig soll in uns bewahrt bleiben Leib und Seele, damit das Bild unseres Schöpfers nicht in der [ihm eigenen] Größe, aber doch in Wirklichkeit23 in uns getragen werde und erglänze! Was wir gesagt haben, bestätigt der Apostel, indem er spricht: „Dies aber, Brüder, sage ich, Fleisch und Blut können nicht Gottes Reich erben“24 . Seht, wie er die Auferstehung des Fleisches verkün digt; denn dort wird zwar das Fleisch nicht den Geist, aber der Geist das Fleisch erben, wie aus dem folgenden klar wird: „Noch wird die Verwesung die Unverweslichkeit erben“25 . Ihr seht: nicht das Fleisch geht unter, sondern die Verweslichkeit, nicht der Mensch, sondern die Schuld, nicht die Person, sondern die Sünde, damit der Mensch, in Gott und bei Gott lebend, sich freue, endlich die Vernichtung seiner Sünden erworben zu haben. Über die Auferstehung, Brüder, müssen wir [aber noch] eine besondere Rede halten, weil es nicht angeht, nur im Vorübergehen und nur am Ende der Rede selbst zu sprechen über das, was uns hinüberführt in die Zeit der Ewigkeit und zum ewigen Leben.
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Gen 2,7 ↩
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1 Kor 15,45 ↩
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Gen 2,7 ↩
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die Schule würde sagen: er ist a se et per se, actus purus ↩
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vgl. Joh 10,10; Apg 3,15 ↩
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Is 44,6; 48,12; Offb 1,8. 17; 22,13 ↩
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1 Kor 15,46 ↩
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substantiam ↩
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Ps 84,13 ↩
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Ps 131,11 ↩
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1 Kor 15,47 ↩
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D. i. der Jungfrau. Die Frage ist gegen die Nestorianer gerichtet ↩
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aula Virginis ↩
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Virgo concipit, Virgo parturit, Virgo permanet. ↩
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Mt 2,11 ↩
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1 Kor 15,48 ↩
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d. i. als himmlische Menschen ↩
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Beim Gericht nämlich ↩
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d. i. die Taufe; für die Bezeichnung des Taufwassers als Mutterschoß ↩
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1 Kor 15,49 ↩
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die Kirche ↩
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in ihrem Schoße ↩
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actu, vielleicht noch eher zu übersetzen: durch unser Handeln ↩
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1 Kor 15,50 ↩
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ebd ↩