118.
In tiefster Finsternis und Unwissenheit ein Leben des Fleisches zu führen, ohne daß sich die Vernunft auch nur dagegen sträubt, das ist der erste Zustand des Menschen. Ist dann mit dem Gesetz auch die Kenntnis der Sünde gekommen, ohne daß der göttliche Geist schon zu Hilfe kommt, so unterliegt der Mensch, S. 499 wenn er auch nach dem Gesetze leben will, und er sündigt mit Wissen und ist ein Knecht und Sklave der Sünde: „Denn dem, von welchem einer besiegt worden ist, wird er auch als Sklave zugesprochen1.“ Das ist nämlich die Wirkung der Kenntnis des Gebotes, daß die Sünde im Menschen jede Begierlichkeit weckt ― und diese kommt zur Erfüllung in der Übertretung ― und daß sich so das Schriftwort erfüllt: „Das Gesetz ist dazwischen gekommen, damit die Sünde überhand nehme2.“ Dies gilt vom zweiten Zustand des Menschen. Wenn aber Gott einmal sieht, wie man von ihm glaubt, er werde zur Erfüllung der von ihm gegebenen Gebote auch mithelfen, und wenn der Mensch einmal vom Geiste Gottes getrieben wird, so richtet sich mit der wachsenden Kraft der Liebe das Begehren (des Menschen) gegen das Fleisch, so daß zwar seine Schwäche noch nicht gänzlich geheilt und darum in ihm noch ein Widerstreit vorhanden ist, er lebt jedoch aus dem Glauben als Gerechter3, und er lebt gerecht, soweit er der bösen Begierde nicht nachgibt und die Lust an der Gerechtigkeit den Sieg behält. Das ist dann der dritte Zustand, der Zustand des Menschen, der auf dem Grunde guter Hoffnung steht. Wer darin in frommer Beharrlichkeit weiterschreitet, den erwartet als schließlicher letzter Zustand jener Friede, der nach dem gegenwärtigen Leben in der Ruhe des Geistes und endlich in der Auferstehung auch des Fleisches seine Verwirklichung finden wird. Von diesen vier verschiedenen Zuständen fällt der erste vor das Gesetz, der zweite unter das Gesetz, der dritte unter die Gnade und der vierte in den vollen und vollkommenen Frieden. So war auch das Volk Gottes in den verschiedenen Zeitläuften geordnet nach dem Wohlgefallen Gottes, der alles nach Maß, Zahl und Gewicht einteilt4. Denn das Volk Gottes lebte zuerst vor dem Gesetze, dann unter dem von Moses gegebenen Gesetz, hierauf unter der in der ersten Ankunft des Erlösers offenbar gewordenen S. 500 Gnade. Diese Gnade fehlte allerdings auch vor diesem Zeitpunkt denen nicht, welchen sie zuteil werden sollte; doch war sie der Ordnung der Zeit entsprechend noch in Verborgenheit gehüllt. Denn auch von den Gerechten der früheren Zeit konnte keiner außerhalb des Glaubens an Christus das Heil finden; wäre nämlich Christus nicht auch schon ihnen bekannt gewesen, dann hätte er ja auch uns nicht bald offener, bald verhüllter gerade durch sie prophezeit werden können.
![pattern](/img/pattern.png)