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Werke Augustinus von Hippo (354-430) De Civitate Dei Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat (BKV)
14. Buch

10. Waren wohl die ersten Menschen im Paradies, ehe sie sündigten, von Leidenschaften beunruhigt?

Jedoch mit Recht wirft man die Frage auf, ob der erste Mensch oder die ersten Menschen (denn es war eine Verbindung von zweien) in ihrem seelischen Leibe vor der Sünde diese Leidenschaften hatten, die wir im geistigen Leibe, nach Beseitigung und Ausschließung aller Sünde, nicht haben werden. Denn hatten sie sie, wo bleibt dann ihre Glückseligkeit an jener denkwürdigen Stätte der Glückseligkeit, im Paradiese? Ist doch niemand vollkommen glückselig, der von Furcht oder Schmerz beunruhigt wird. Allein was hätten jene ersten Menschen zu fürchten oder zu leiden gehabt mitten im Überfluß so herrlicher Güter, wo der Tod nicht drohte noch Siechtum des Leibes, wo nichts mangelte, was ein auf das Gute gerichteter Wille sich wünschen konnte, nichts Feindseliges sich zeigte, was Leib oder Seele des glücklich lebenden Menschen hätte verletzen können? Liebe herrschte, unerschütterte Liebe zu Gott und zwischen den Gatten, die in treuer und aufrichtiger Gemeinschaft lebten, und aus dieser Liebe floß gewaltige Freude, da der Gegenstand der Liebe zugleich unaufhörlich Gegenstand des Genusses war. Es herrschte ein wunschloses Meiden der Sünde, und solang dieses andauerte, brach von keiner Seite irgendein Übel herein, das Betrübnis hervorgerufen hätte. Oder begehrten sie etwa, die verbotene Frucht zu genießen, fürchteten aber den Tod, und hätte sonach Begierde und Furcht schon Band 16, S. 766damals an jener Stätte die ersten Menschen beunruhigt? Aber nein, es gab ja da überhaupt keine Sünde, und von Sünde wäre es nicht freizusprechen, wollte man wider das Gebot Gottes begehren und sich der Übertretung aus Furcht vor der Strafe enthalten, nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit. Nein, sage ich, es gab dort vor dem Eintritt der Sünde überhaupt nicht schon der verbotenen Frucht gegenüber jene Sünde, die Gott dem Weibe gegenüber kennzeichnet mit den Worten1: „Wenn einer ein Weib ansieht, um ihrer zu begehren, hat er schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen“. Und so glücklich nun wie die ersten Menschen waren, frei von Gemütsunruhe und von allem Ungemach des Leibes, ebenso glücklich wäre die Gesamtgemeinschaft der Menschen, wenn das erste Paar nichts Böses begangen hätte, das sie auch auf die Nachkommen hinüberleiteten, und wenn niemand aus ihrer Nachkommenschaft aus Bosheit sich etwas zuschulden kommen ließ, was er mit der Verdammnis büßen sollte. Und dieses Glück hätte beständig fortgedauert, bis kraft jenes Segenswortes2: „Wachset und mehret euch“ die Zahl der vorherbestimmten Heiligen voll geworden wäre, und dann wäre ein anderes noch größeres Glück verliehen worden, das, welches den glückseligen Engeln verliehen ist, ein Zustand, bei dem nunmehr jede Möglichkeit der Sünde und des Todes ausgeschlossen und das Leben der Heiligen ohne Hindurchgang durch Mühsal, Schmerz und Tod so beschaffen sein sollte, wie es sein wird nach Hindurchgang durch all dieses bei jener Unvergänglichkeit des Leibes, die durch die Auferstehung der Toten wieder verliehen wird.


  1. Matth. 5, 28. ↩

  2. Gen. 1, 28. ↩

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