4. Kapitel. Das Glückseligkeitsverlangen ist allen Menschen eigen, wenngleich die Meinungen über das Glück verschieden sind.
S. 169 7. Verwunderlich aber ist es, daß, wo doch alle den einen Willen haben, die Glückseligkeit zu ergreifen und zu bewahren, doch eine so große Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Willensrichtungen hinsichtlich der Glückseligkeit selbst besteht, nicht als ob jemand sie nicht wünschte, sondern weil nicht alle sie kennen. Kännten sie nämlich alle, dann würden nicht die einen glauben, sie bestehe in der Tugend der Seele, andere, sie bestehe in der Lust der Sinne, andere, sie bestehe in beiden, wieder andere, sie bestehe wieder in anderem. Je nachdem nämlich ein Ding sie besonders ergötzte, verlegen sie darein das glückliche Leben. Wie können also alle auf das glühendste lieben, was nicht alle kennen? Wer kann lieben, was er nicht kennt? Ich habe über diese Frage schon in den vorausgehenden Büchern gehandelt.1 Warum also wird die Glückseligkeit von allen geliebt und doch nicht von allen gekannt? Oder wissen etwa alle, was ihr Wesen ist, während sie nicht wissen, wo sie ist, und kommen etwa daher die Meinungsverschiedenheiten? Das wäre indes so, wie wenn es sich um irgendeinen Ort dieser Welt handelte, wo jeder zu leben wünschen muß, der glücklich zu leben wünscht. Es würde sonach die Frage, wo die Glückseligkeit ist, eine andere sein als die Frage, was sie ist; wenn sie nämlich in der Lust der Sinne besteht, dann ist offenbar jener glücklich, der die Lust der Sinne genießt. Wenn sie in der Tugend der Seele besteht, dann jener, der sie genießt; wenn in beiden, dann ist jener glücklich, der beides genießt. Da also der eine sagt: Glücklich leben heißt die Lust der Sinne genießen, ein anderer aber: Glücklich leben heißt die Tugend der Seele genießen, S. 170 ist es da nicht so, daß entweder beide nicht wissen, was ein glückliches Leben ist, oder daß es nicht beide wissen? Wie kommt es dann, daß beide es lieben, wo doch niemand lieben kann, was er nicht kennt? Ist etwa falsch, was wir als eine ganz unbestreitbare und sichere Wahrheit hingestellt haben, daß nämlich alle Menschen glücklich leben wollen? Wenn zum Beispiel glücklich leben soviel heißt wie gemäß der Tugend der Seele leben, wie kann man dann von dem, der dies nicht will, sagen, daß er glücklich leben will? Sollten wir nicht richtiger sagen: Dieser Mensch will nicht glücklich leben, weil er nicht gemäß der Tugend leben will, was allein glücklich leben heißt? Nicht alle wollen also glücklich leben; im Gegenteil, wenige wollen dies, wenn glücklich leben nichts anderes heißt als nach der Tugend der Seele leben, was viele nicht wollen. Wird es so nicht falsch sein, woran selbst der Akademiker Cicero nicht zweifelte — die Akademiker bezweifeln nämlich alles? Als dieser in seinem Zwiegespräch Hortensius2 seine Erörterungen mit einer sicheren Tatsache beginnen lassen wollte, an der niemand zweifelt, sagte er: „Glücklich sein wollen wir sicher alle.“ Ferne sei es, daß wir diese Behauptung als falsch erklären. Wie also? Muß man etwa sagen: Obgleich glücklich leben nichts anderes ist, als gemäß der Tugend der Seele leben, so will doch auch derjenige, welcher dies nicht will, glücklich leben? Das scheint freilich allzu töricht zu sein. Das ist nämlich so, wie wenn wir sagen würden: Auch jener, der nicht glücklich leben will, will glücklich leben. Wer kann diesen Widerspruch anhören, wer ihn ertragen? Und doch wird man zwangsläufig zu ihm getrieben, wenn es wahr ist, daß alle Menschen glücklich S. 171 leben wollen und doch nicht alle so leben wollen, wie allein sich glücklich leben läßt.
De trin. l. VIII c. 4 ff.; l. X c. 1. ↩
Über das Verhältnis Augustins zu Cicero siehe die S. 168, Anmerkung 1 angeführte Literatur. Dazu: Hans Becker, Augustin, Studien zu seiner geistigen Entwicklung. Leipzig 1908. Alle von Augustinus überlieferten Bruchstücke aus der verlorenen Schrift Hortensius sind gesammelt in der Cicero-Ausgabe von C. F. W. Müller (Bibl. Teubn.) IV, 35. 313―327. ↩
