6. Kapitel. Warum nicht alle die Glückseligkeit in sachgemäßer Weise wollen.
9. Da also das glückliche Leben in diesen beiden Dingen besteht und es allen bekannt und allen teuer ist, was hat da wohl für eine Ursache die Tatsache, daß die Menschen, wenn sie nicht diese beiden Dinge haben können, sich lieber dafür entscheiden, alles, was sie wollen, zu haben, als alles in rechter Weise zu wollen, auch wenn sie es nicht haben können? Kommt es etwa von der Verderbtheit des menschlichen Geschlechtes,S. 173 daß man — es ist ihnen ja nicht verborgen, daß weder jener glücklich ist, der nicht hat, was er will, noch jener, der hat, was er in schlechter Weise will, sondern jener, der das Gute hat, das immer er will, und der nichts Böses will —, daß man von den beiden Dingen, durch die das glückliche Leben verwirklicht wird, wenn man beides nicht haben kann, lieber das wählt, mit dem man sich weiter vom glücklichen Leben entfernt — weiter ist nämlich von ihm entfernt, wer sein böses Begehren erfüllt, als derjenige, der dies nicht erfüllt —, während doch lieber der gute Wille gewählt und vorgezogen werden sollte, auch wenn er nicht erreicht, was er erstrebt? Es nähert sich nämlich dem glücklichen Leben, wer in guter Weise will, was immer er will; und wenn er, was er so will, erlangt, wird er glücklich sein. Sicherlich macht ja nicht das Böse, sondern das Gute den Menschen glücklich, wenn ihn etwas glücklich macht. Von dem Guten nun hat schon etwas — man darf das nicht gering einschätzen —, nämlich eben den guten Willen, wer sich darnach sehnt, sich am Guten, dessen die menschliche Natur fähig ist, nicht aber über die Verwirklichung oder Erlangung irgendeines Bösen zu freuen und dem Guten, wie es in diesem elenden Leben sein kann, mit klugem, maßvollem, tapferem und gerechtem Geiste nachjagt, und es, soweit es ihm verliehen wird, erreicht. Er wird so auch unter den Bösen gut sein und, wenn alles Böse ein Ende hat und alles Gute zur Erfüllung kommt, glücklich sein.
