10. Gott sorgt für uns wie für die Israeliten, wenn wir auch seine Sorge nicht erkennen wollen
Doch an dieser Stelle mag mir vielleicht eingewandt werden, Gott habe zwar einstmals so für die Menschen Sorge getragen, tue das aber jetzt nicht mehr. Wie kommen wir zu solcher Meinung? Vielleicht deshalb, weil wir nicht täglich Manna essen, wie jene damals, während wir doch Äcker voll von Weizen abernten können? Weil wir keine Wachteln mehr fangen, die den Menschen in die Hände fliegen, während wir doch alle Arten von Vögeln, Haustieren und Wild verzehren? Weil wir nicht mehr mit offenem Munde die aus Felsen entspringenden Quellwasser auffangen, während wir doch unsere Weinkeller mit dem Saft der Trauben füllen? - Ich sage noch mehr: Wir behaupten, Gott vernachlässige uns, während er früher für die Menschen gesorgt habe; aber, wenn wir die Güter der Vergangenheit statt der gegenwärtigen erhalten könnten, wir würden es ganz und gar verschmähen, jene Zustände auch nur zu wünschen. Denn wir wollten unsere jetzigen Güter nicht verlieren, um die zu erlangen, die jene damals hatten, nicht weil wir jetzt Besseres hätten, als das Volk zu jener Zeit hatte, sondern weil auch jene, die doch täglich durch Gottes Fürsorge vom Himmel genährt wurden, die alte Begierde des Bauches den Gütern, die sie gerade besaßen, vorzogen. Denn sie waren schändlicherweise traurig im Gedanken an die Fleischspeisen und mürrisch, weil sie schmähliches Verlangen nach Zwiebeln und Knoblauch trugen; nicht als ob ihre frühere Nahrung besser gewesen wäre, sondern weil sie S. 65 damals das gleiche taten, wie wir jetzt. Sie verschmähten, was sie besaßen, und sehnten sich nach dem, was sie nicht hatten; wir stellen die damaligen Zustände über die jetzigen, nicht weil wir jene immer haben möchten, wenn wir die Möglichkeit der Wahl hätten, sondern weil es ein häufiges Laster des menschlichen Herzens ist, immer das Versagte zu wünschen, und weil, wie einmal gesagt wurde, uns das Fremde, den Fremden das Unsrige besser gefällt. 1Dazu kommt noch eine fast allgemeine Eigenschaft der Menschen, nämlich Gott immer undankbar zu sein; durch dieses eingewurzelte, fast angeborene Übel sind wir alle aneinandergeschmiedet, und man verkleinert die Wohltaten Gottes, um sich nicht als Schuldner bekennen zu müssen. Aber davon genug! - Wir wollen jetzt in die Bahn, die wir schon längst beschritten haben, zurückkehren. Meiner Meinung nach haben wir unsere Behauptungen zwar schon hinlänglich bewiesen; doch wenn es angenehm ist, wollen wir noch einiges hinzufügen. Denn es ist besser, mit den Beweisen mehr als das unbedingt Notwendige zu tun, als hinter der Wichtigkeit der Aufgabe zurückzubleiben.
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Publilius Syrus, Mime und Sentenzendichter im 1. Jahrh. v. Chr. Der von Salv. zitierte Spruch ist Vers 28 in Puhl. Syri Mimi Sententiae rec. G Meyer, Leipzig 1880, S. 18. Vgl. auch die ähnlichen populär-philosophischen Gedanken bei Cicero, Ad fam. VI 1, 1 und Horaz, Serm. I 1. ↩