1. Die Klugheit ist nothwendig und eine große Gnade Gottes.
S. a323 Nachdem wir also nach Mitternacht ein wenig geschlafen und endlich voll Freude über den Aufgang der Sonne die versprochene Unterredung eben verlangt hatten, da begann der fromme Moyses also: Da ich euch von solcher Glut des Verlangens entflammt sehe, daß ich glaube, es werde nicht einmal die kurze Ruhezeit, die ich der geistigen Unterredung entzog und lieber auf die Erholung des Fleisches verwendet wissen wollte, zur Ruhe eueres Körpers beigetragen haben: so liegt auch mir, wenn ich diesen euern Eifer betrachte, eine größere Sorgfalt ob; denn auch ich muß nun in der Lösung meiner eingegangenen Verpflichtung für eine um so größere Aufopferung sorgen, mit je mehr Aufmerksamkeit ihr, wie ich sehe, mich anhaltet, nach jenem Ausspruch: 1 „Wenn du beim Mahle sitzest am Tische des S. a324 Mächtigen, so merke wohl auf, was dir vorgesetzt wird, und lege deine Hand an, wissend, daß du Solches bereiten mußt.“ — Da wir also von der Gabe und Tugend der Klugheit sprechen wollen, worauf unsere Rede in der nächtlichen Unterhaltung noch kam, und womit die Disputation endigte, so halten wir es für passend, ihre Vortrefflichkeit zuerst durch Aussprüche der Väter zu zeichnen, damit wir nach Klarlegung der Ansichten und Aussprüche unserer Vorfahren ihren Nutzen und Vortheil nach Möglichkeit von Neuem behandeln, indem wir darstellen, wie in alter und neuer Zeit Viele gefallen und zu Grunde gegangen sind, weil sie diese Tugend zu wenig erlangt hatten und also in verderblichem Falle stürzten. Wenn das durchgenommen ist, werden wir durch die Betrachtung der Wucht ihres Verdienstes und ihrer Gnade kräftiger unterrichtet werden, wie wir sie pflegen und suchen sollen. Es ist das nemlich nicht so eine mittelmäßige Tugend oder eine, die immer durch menschliche Thätigkeit erfaßt werden konnte, wenn sie nicht durch göttliche Gabe und Gnade verliehen ist. Wir lesen nemlich, daß dieselbe unter den edelsten Gaben des hl. Geistes so von dem Apostel aufgezählt werde: 2 „Dem Einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit verliehen, dem Andern der Glaube in demselben Geiste, wieder Einem die Gabe der Heilung in einem Geiste“ und bald darauf: „Dem Andern die Unterscheidung der Geister.“ Dann, nachdem er die ganze Reihe der geistigen Gnadengaben aufgeführt hat, fügt er bei: „Aber all Das wirkt ein und derselbe Geist und theilt es den Einzelnen aus, wie er will.“ Ihr seht also, daß die Gabe der Unterscheidung nicht eine irdische und kleine ist, sondern ein sehr großes Geschenk der göttlichen Gnade. Wenn ein Mönch sie nicht mit aller Anstrengung erstrebt hat und nicht nach einer sichern Regel die in ihm aufsteigenden Geister zu unterscheiden weiß, so muß er wie in blinder Nacht und S. a325 schwarzer Finsterniß umherirrend nicht nur in jähe, verderbliche Vertiefungen fallen, sondern auch auf ebenem und geradem Wege oft anstoßen.