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S. 464 Im Hebräerevangelium1 — manche nennen es auch Apostel-, sehr viele Matthäusevangelium ―, welches in chaldäischer und syrischer Sprache, jedoch mit hebräischen Buchstaben geschrieben ist, dessen sich die Nazarener bis heute bedienen, und das in der Bibliothek zu Cäsarea aufbewahrt wird, findet sich folgende Mitteilung: „Die Mutter des Herrn und seine Brüder sprachen zu ihm: Johannes der Täufer tauft zur Vergebung der Sünden. Wohlan, wir wollen uns auch von ihm taufen lassen. Er aber sprach zu ihnen: Worin habe ich gesündigt, daß ich hingehen und mich von ihm taufen lassen soll? Es müßte denn sein, daß ich etwas aus Unwissenheit gesagt habe“. In derselben Schrift heißt es: „Wenn dein Bruder durch ein Wort gesündigt hat und dir Genugtuung leistet, dann nimm ihn siebenmal im Tage auf. Da sprach zu ihm sein Jünger Simon: Siebenmal im Tage? Es antwortete der Herr und sprach zu ihm: Ja, ich sage dir, sogar siebenzigmal siebenmal. Denn auch bei den Propheten kommen, selbst nachdem sie mit dem Heiligen Geiste gesalbt sind, noch sündhafte Worte vor“. Der Märtyrer Ignatius, ein Schüler der Apostel, schreibt kühnlich: „Der Herr wählte sich Apostel aus, welche mehr als alle Menschen Sünder waren„2. Über ihre rasche Bekehrung läßt sich der Psalmist aus: „Obgleich ihre Sünden sich gehäuft hatten, eilten sie später herbei“3. Wenn du diesen Zeugnissen auch keinen autoritativen Wert beimissest, so laß wenigstens ihr Alter gelten und schließe daraus, welcher Ansicht alle kirchlichen Männer gewesen sind! Setzen wir den Fall, daß ein Getaufter sofort oder wenige Tage nach der Taufe vom Tode hinweggerafft wird, dann will ich zugeben, was ich nicht zuzugeben brauche, daß er weder etwas gedacht noch etwas gesprochen hat, wobei er aus Irrtum und Unwissenheit zu Fall S. 465 gekommen wäre. Wird er nun deshalb ohne Sünde bleiben, weil er den Anschein erwecken wird, die Sünde wenn auch nicht überwunden, so doch gemieden zu haben, oder nicht vielmehr deshalb, weil er durch Gottes Barmherzigkeit aus dem Sündenkerker befreit wurde und zum Herrn hinüberging? Auch wir sagen, daß Gott alles kann, was er will. Wir betonen aber ferner im Gegensatz zu dir, daß der Mensch aus sich und vermöge seines Willens nicht ohne Sünde sein kann. Wenn er es aber aus sich fertig bringt, dann ist es ganz umsonst, die Gnade mitspielen zu lassen, da er sie, weil die eigene Kraft ausreicht, nicht braucht. Vermag der Mensch nicht sündlos zu sein ohne die göttliche Gnade, dann ist es Torheit von dir, die Behauptung aufzustellen, er könne etwas, was er doch nicht kann. Denn was immer abhängt von der Willensentscheidung eines anderen, das kann nicht dem zugeschrieben werden, für den du das Können in Anspruch nimmst, sondern jenem, ohne dessen Mitwirkung der andere nicht kann, wie sich klar ergibt.
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Über seine Stellungnahme zu dieser apokryphen Schrift war sich Hieronymus nie recht klar. Vgl. L. Schade, Hieronymus und das hebräische Matthäusoriginal (Bibl. Zeitschrift VI [1908], 346—363). ↩
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Hieronymus irrt hier. Die betreffende Stelle findet sich nicht bei Ignatius, wohl aber im Barnabasbrief c. 5. ↩
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Ps. 15, 4 [Hebr. Ps. 16, 4]. ↩