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Werke Boethius, Anicius Manlius Severinus (480-524) Philosophiae consolatio Trost der Philosophie (BKV)
Fünftes Buch

IV.

Darauf sprach jene: Alt ist dieser Streit um die Vorsehung, und er hat Marcus Tullius Cicero in seiner Schrift, in der er sich über die Weissagung ausläßt, auf das lebhafteste bewegt, und auch von dir ist diese Sache viel und sehr lange gesucht, aber bisher ist sie von keinem von euch klar und sicher genug herausgearbeitet worden. Der Grund dieser Dunkelheit liegt darin, daß die Bewegung der menschlichenVernunftsschlüsse durchaus an die Einfachheit der göttlichen Vorsehung nicht herankommen kann. Wenn sie sie einmal zu denken vermöchte, so bliebe nichts Zweideutiges zurück. Ich werde versuchen, dies zuletzt zu erhellen und festzustellen, wenn ich zuerst geprüft haben werde, was dich jetzt bewegt hat. Ich frage nämlich, warum du die Beweisführung für weniger wirksam hältst, die jene folgendermaßen lösen wollen: Sie meinen, da die Vorsehung nicht die Ursache der kommenden Dinge sei, könne sie auch nicht die Freiheit des Wollens hindern. Ziehst du von wo anders her den Schluß von der Notwendigkeit zukünftiger Dinge als daher, daß das, was vorausgewußt ist, nicht nicht geschehen kann? Wenn also die Vorauskenntnis den zukünftigen Dingen an sich keine Notwendigkeit zufügt, wie du eben auseinandergesetzt hast, was zwingt dann den freiwilligen Ausgang der Dinge zu notwendigem Geschehen? Setzen wir einmal beispielmäßig fest, damit du besser meinen Ausführungen folgen kannst, es gäbe keine Vorsehung, was nun, soweit das uns hier angeht, zwingt die aus Willkür geschehenden Dinge zur Notwendigkeit? – Nichts. – Nehmen wir nun wieder an, sie bestehe, aber nichts von Notwendigkeit binde die Dinge, so würde, meine ich, die gleiche Unbeschränktheit des Willens, die schrankenlose Freiheit bleiben. Die Vorsehung aber, sagst du, ist, obwohl sie die Notwendigkeit für das Geschehen des Zukünftigen nicht ist, so doch das Wahrzeichen für das notwendig Kommende; auf diese Weise stünde fest, daß auch wenn die Vorauskenntnis nicht wäre, es doch ein notwendiges Geschehen des Zukünftigen gäbe; denn jedes Wahrzeichen, so Großes es auch anzeigen mag, bewirkt in Wahrheit das nicht, was es bezeichnet. Deshalb wäre zuerst aufzuweisen, daß nichts ohne Notwendigkeit geschehen kann, damit die Vorsehung als Wahrzeichen für diese Notwendigkeit erschiene. Denn wenn diese nicht wäre, so könnte jene Vorsehung durchaus kein Wahrzeichen von etwas sein, das nicht ist. Aber nur der Beweis steht fest, der mit sicheren Vernunftschlüssen begründet und zusammengehalten ist, nicht der aus Wahrzeichen oder aus äußeren Argumenten hergeholt ist, sondern der aus übereinstimmenden notwendigen Ursachen sich S. 173 ergibt. Aber wie ist das möglich, daß das nicht geschehen könnte, was als Zukünftiges vorausgeschaut wird? Gerade als wenn wir glauben würden, daß das, was die Vorsehung als Zukünftiges voraus weiß, nicht geschehen müsse, und nicht lieber meinten, daß dasjenige, dem es freisteht zu geschehen, seiner Natur nach keine Notwendigkeit zu geschehen habe, was dir hernach leicht freisteht zu untersuchen. Wir sehen nämlich mehrere Dinge, während sie vor unsern Augen geschehen, so wie man etwa die Wagenlenker sieht, wie sie ihr Viergespann lenken und umwenden und alles andere; zwingt nun dieses irgend eine Notwendigkeit, daß es so geschehe? – Keineswegs; vergeblich wäre die Wirkung der Kunst, wenn alles zwangsläufig sich bewegte. – Was also der Notwendigkeit des Soseins entbehrt, wenn es geschieht, wird ebenso, ehe es geschieht, in Zukunft ohne Notwendigkeit geschehen. Gewisse kommende Ereignisse also gibt es, die von aller Notwendigkeit frei sind. Denn das, meine ich, wird niemand sagen, daß das, was jetzt geschieht, auch nicht hätte geschehen können, ehe es geschah. Also auch das Vorhergewußte hat Freiheit des Geschehens; denn wie das Wissen um die gegenwärtigen Dinge diesen keine Notwendigkeit des Geschehens hinzufügt, so auch nicht das Vorherwissen denen, die geschehen werden. Dieses aber, sagst du, wird gerade bezweifelt, ob von den Dingen, die keine Notwendigkeit des Geschehens haben, irgend eine Voraussehung sein könne. Und du meinst auch, es sei ein Widerspruch, daß aus dem, was vorausgeschehen werde, die Notwendigkeit folge. Wenn aber die Notwendigkeit fehlt, kann nichts vorausgesehen werden; denn das Wissen kann nur Sicheres fassen, und wenn als sicher das vorgesehen wird, dessen Geschehen unsicher ist, so ist das eine Unklarheit des Meinens und nicht die Wahrheit des Wissens. Und mit der Reinheit des Wissens, so glaubst du, sei es unvereinbar, eine Sache anders zu beurteilen als sie ist.

Die Ursache dieses Irrtums ist, daß man glaubt, daß alle Dinge, die man weiß, aus einer ihnen innewohnenden Kraft und aus der Natur des Gewußten erkannt werden. Doch das Entgegengesetzte ist der Fall; alles nämlich, was erkannt wird, wird nicht aus einer ihm innewohnenden Kraft erkannt, sondern gemäß der Fähigkeit des Erkennenden; was aus folgendem kurzem Beispiel erhellt: Die Rundheit irgend eines Körpers erkennt das Gesicht anders als der Tastsinn; jenes entfernt bleibend, schaut alles zusammen gleichsam durch hingeworfene Strahlen, dieser aber, der Kreisbewegung verhaftet und verbunden, begreift die Rundung, gleichsam um sie herumgehend in ihren Teilen. So betrachten auch den Menschen selbst anders die Sinne, anders die Vorstellungskraft, anders die Vernunft, anders die höchste Einsicht. Die Sinne nämlich beurteilen die Gestalt, wie sie in die untergeordnete Materie geprägt ist, die Vorstellungskraft aber nur die S. 175 Gestalt ohne Materie; die Vernunft überschreitet auch diese und behandelt nur die Art selbst, die den Einzelwesen innewohnt, unter allgemeinen Gesichtspunkten. Das Auge der Intelligenz steht am höchsten; denn nachdem sie selbst den Umkreis des Universums überschritten hat, schaut sie jene einfache Form mit der reinen Schärfe des Geistes. Wobei besonders zu beachten ist, daß die höhere Kraft des Begreifens die niedere umspannt, während die niedere sich auf keine Weise zur höheren erheben kann. So gelten die Sinne nichts außerhalb der Materie, noch schaut die Vorstellungskraft die allgemeinen Arten, noch begreift die Vernunft die einfache Form, aber die höchste Einsicht gleichsam von oben schauend beurteilt die Gesamtheit, die Formen begreifend, die unter ihr sind, und zwar auf die Weise, daß sie die Form an sich, welche die anderen alle nicht erkennen können, umgreift; denn sie erkennt das Universum der Vernunft, die Gestalt der Vorstellungskraft und die sinnliche Materie nicht, indem sie sich der Vernunft, der Vorstellungskraft, der Sinne bedient, sondern indem sie mit einem Blick des Geistes gleichsam, wie ich sagte, das Ganze erschaut. Auch die Vernunft, wenn sie das Allgemeine betrachtet, bedient sich weder der Vorstellungskraft noch der Sinne, um das Dargestellte und Sinnliche zu begreifen. So nämlich bestimmt sie das Allgemeine ihrer Auffassung: Der Mensch ist ein zweifüßiges vernünftiges Wesen. Wer die Kenntnis des Allgemeinen besitzt, dem ist weder das Vorstellbare noch das Sinnliche unbekannt, was er nicht durch Vorstellung noch durch Sinnlichkeit, sondern durch die Vernunft ergreift. Auch die Vorstellungskraft, obgleich sie von den Sinnen des Gesichtes und Bildens die Gestalten herleitet, betrachtet bei Abwesenheit der Sinne das Sinnliche nicht kraft ihres sinnlichen, sondern ihres Vorstellungsurteils. Siehst du also, wie alle beim Erkennen sich mehr ihrer Fähigkeit bedienen als derjenigen des zu erkennenden? Und dies nicht mit Unrecht, denn damit jedes Urteil als ein Akt des Urteilenden besteht, ist notwendig, daß jeder seine Tätigkeit aus eigener Macht und nicht aus der andrer ausführe.

IV. Einstmals brachte der Stoa Kreis

Alte törichte Männer hervor,

Die da meinten, es sei dem Geist

Wie den Körpern von außen her

Bild und Sinne so aufgeprägt,

Wie der emsige Griffel einst

Auf die ebene Tafel, die

Noch von Zeichen nicht eine Spur

Eingeprägt, seine Lettern setzt.

Doch wie drückte lebend'ger Geist,

S. 177 Ohne eigne Bewegung sich aus,

Wenn er selbst nur geduldig liegt,

Sich dem Eindruck des Körpers fügt,

Wenn er nur wie ein Spiegelglas

Gib[t] ein Zerrbild der Außenwelt?

Woher kam das Wissen dem Geist,

Das ihn stark macht das All zu schaun?

Wo die Kraft, die Besondres sieht

Und die teilt das, was sie erkennt,

Das Getrennte von neuem eint,

Daß sie wechselnd die Wege wählt,

Jetzt dem Höchsten das Haupt gesellt,

Jetzt zum Tiefsten heruntersteigt,

Wieder dann zu sich selber kehrt,

Und zur Wahrheit das Falsche führt?

Mehr bei weitem bewirkt die Kraft

Und viel mächt'ger ihr Anstoß ist,

Als wenn sie nach der Art des Stoffs

Jeden Eindruck nur duldend trüg,

Freilich geht ihr erregend vor,

Was die Seele voll Kraft bewegt:

Lebender Körper Empfänglichkeit.

Wenn das Licht in die Augen fällt,

Wenn die Stimme im Ohre schallt,

Dann erweckt auch des Geistes Kraft,

Was an innerer Schau er trägt,

Ruft zu gleicher Bewegung auf,

Paßt es äußerem Eindruck an

Und vermählt im Innern nun

Die verborgene Form dem Bild.

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