Zweiter Artikel. Das Naturgesetz enthält mehrere Vorschriften.
a) Es enthält offenbar nur eine. Denn: I. „Gesetz“ gehört zur Seinsart „Vorschrift“. Giebt es also viele Vorschriften von Natur, so giebt es auch viele Naturgesetze. II. Das Naturgesetz entspricht der menschlichen Natur. Die menschliche Natur aber ist eine als Ganzes betrachtet, und etwas Vielfaches gemäß den zu ihr gehörigen Teilen. Entweder also giebt es nur eine Vorschrift des Naturgesetzes, entsprechend der Einheit der Natur als eines Ganzen; oder es sind viele Vorschriften, entsprechend der Vielheit der Teile oder Vermögen der menschlichen Natur. Im letzteren Falle müssen dann auch die Dinge, welche auf die Hinneigung der sinnlichen Begehrkraft sich beziehen, Vor schriften des Naturgesetzes sein. III. Das Gesetz ist etwas der Vernunft Zugehöriges. Die Vernunft im Menschen aber ist nur eine. Auf der anderen Seite verhalten sich die Vorschriften des Naturgesetzes zu dem, was durch menschliche Thätigkeit zu geschehen hat, wie die ersten Grundprincipien in den spekulativen Wissenschaften. Der letzteren aber sind mehrere. Also.
b) Ich antworte, die ersten Principien sowohl des spekulativen Wissens als auch die, welche im Naturgesetze enthalten sind oder dasselbe bilden, seien aus und durch sich selber bekannt. Das will aber heißen, wenn dies schlechthin genommen wird, daß nämlich das Prädikat zum Wesen des Subjekts gehört. Nun kommt es aber vor, daß für jenen, der die Begriffsbestimmung des Subjekts nicht kennt, auch das entsprechende Princip nicht aus und durch sich bekannt ist. So etwa ist dieser Satz: „Der Mensch ist vernünftig“ aus und durch sich bekannt gemäß seinem Wesen; denn wer sagt „Mensch“, der sagt „vernünftig“. Wer aber den Begriff „Mensch“ nicht kennt, dem ist der betreffende Satz nicht aus und durch sich bekannt. Es giebt also, wie Boëius (de hebd.) sagt, leitende Grundsätze, die sowohl aus und durch sich wie auch für alle gekannt sind; wie z. B.: „Das Ganze ist größer wie eines seiner Teile.“ Andere Sätze aber. sind zwar ebenfalls an sich betrachtet aus und durch sich bekannt, aber sie sind es nur für die Weiseren, welche wissen, was die Ausdrücke im Satze bezeichnen; wie z. B. für den, der weiß, der Engel sei kein Körper, es aus und durch sich bekannt ist, daß der Engel nicht von einem Orte umfaßt und eingeschlossen werde; mögen auch Unwissende dies nicht verstehen. Nun wird in dem Bereiche dessen, was die Menschen auffassen, eine gewisse Reihenfolge und Ordnung gefunden. Denn was an erster Stelle unter die auffassende Kraft der Vernunft fällt, ist das Sein; es erscheint ja in allem von der Vernunft Erfaßten eingeschlossen. Und deshalb ist das erste Grundprincip jenes, was sich gründet auf den Charakter des „Sein und Nichtsein“; daß also über ein und denselben nicht zugleich behauptet werden kann das Sein und Nichtsein. Auf diesem Princip gründen alle anderen. Ahnlich ist im Bereiche der auf das Thätigsein gerichteten, nämlich der praktischen Vernunft, das Erste, was erfaßt wird: das Gute. Denn jegliches Thätigseiende ist wegen eines Zweckes thätig, der den Charakter des Guten hat. Das erste Princip nun, was sich auf diese Auffassung gründet, ist: „Gut ist das, was von allen begehrt wird.“ Das ist also die erste Vorschrift des Naturgesetzes: „Das Gute ist zu thun und das Schlechte zu meiden.“ Auf diesem Princip gründen alle anderen Vorschriften des Naturgesetzes, daß nämlich alle jene Dinge zu thun und zu erstreben sind, welche die menschliche Vernunft auffaßt als Güter für den Menschen. Weil aber das Gute das innere Wesen des Zweckes ist und vom Übel das Gegenteil gilt; deshalb faßt die Vernunft von Natur aus alle jene Dinge, zu welchen der Mensch eine Hinneigung in seiner Natur selber hat, als Gut auf und als erstrebenswert. Das Gegenteil aber betrachtet sie als Übel und als meidenswert. Gemäß der Ordnung sonach in den Hinneigungen der Natur selber ist die Ordnung in den Vorschriften des Naturgesetzes. Im Menschen also findet sich zuerst die Hinneigung zum Guten, wie in allen Substanzen dies kraft der Natur der Fall ist; insofern nämlich jedes Ding strebt nach der Erhaltung seines Seins gemäß der Natur desselben. Und danach gehört zum Naturgesetze Alles, wodurch das Leben des Menschen bewahrt und das Gegenteilige abgewehrt wird. Dann findet sich im Menschen die Hinneigung zu besonderen Gütern, in welchen er kraft der Natur Gemeinschaft hat mit den anderen sinnbegabten Wesen. Und danach ist zum Naturgesetze gehörig Alles, was die Natur den anderen sinnbegabten Wesen lehrte: die Verbindung von männlich und weiblich, die Erziehung der Kinder und Ähnliches. Drittens ist im Menschen die Hinneigung zum Guten gemäß der Natur der Vernunft, die ihm eigen ist; wie z. B. er die natürliche Hinneigung dazu hat, daß er über Gott die Wahrheit erkennt, daß er in der menschlichen Gesellschaft lebt. Und danach gehört zum Naturgesetze Alles, was auf diese Hinneigung Bezug hat; z. B. daß der Mensch die Unwissenheit meidet, andere nicht beleidigt u. dgl.
c) I. Alle diese Vorschriften kommen von einer ersten; und bilden somit ein Naturgesetz. II. Die gesamten Hinneigungen in jedem menschlichen Vermögen, insoweit sie durch die Vernunft geregelt werden, gehören dem Naturgesetze an und fließen aus einer ersten Vorschrift. Viele sind also der Vorschriften deß Naturgesetzes in sich; eine aber die Wurzel. III. Die Vernunft, obgleich in sich eine, lenkt Alles, was zum Menschen gehört; und danach gehört unter das Naturgesetz Alles, was zu regeln ist durch die Vernunft.