Erster Artikel. Die geistige Trauer ist eine Sünde.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Wegen der Leidenschaften verdienen wir weder Tadel noch Lob, nach 2 Ethic. 5. Die Trauer aber ist eine Leidenschaft. (Vgl. Damascenus 2 de orth. fide 14.) II. Keine körperliche Schwäche, die zu gewisser Stunde eintritt, hat den Charakter der Sünde. Die geistige Trauer aber kommt von einer solchen Schwäche, nach Kassian (10. de institutis monach. c. 1.): „Die geistige Trauer beunruhigt zumal um die sechste Stunde den Mönch; wie ein Fieber, das zur gewissen Zeit eintritt und der kranken Seele zur gegebenen festen Stunde Gluthitze verursacht.“III. Die geistige Trauer kommt aus guter Wurzel, ist also keine Sünde. Denn Kassian sagt (l. c.): „Die geistige Trauer kommt daher, daß jemand darüber seufzt, er bringe keine geistige Frucht hervor und daß jemand andere weit entfernte Klöster glücklich preist.“ IV. Jede Sünde muß geflohen werden, nach Ekkli 31.: „Wie vor dem Angesichte der Schlange fliehe vor der Sünde.“ Kassian aber sagt: „Die Erfahrung hat es bewiesen, vor der geistigen Trauer soll man nicht fliehen, sondern gegen sie angehen und sie bekämpfen.“ Auf der anderen Seite wird diese Trauer durch die Schrift verboten. Denn Ekkli. 6. heißt es: „Lege darunter deine Schulter und trage sie (die Weisheit) und sei nicht traurig in ihren Fesseln.“
b) Ich antworte, nach Damascenus sei die geistige Trauer oder Trägheit etwas Beschwerendes, die den Geist so niederdrückt, daß er nichts mit selbständiger Freiheit anzugreifen wagt. Sie schließt also einen gewissen Ekel am Wirken und Arbeiten ein, wie die Glosse sagt zu Ps. 106.: omnem escam abominata est anima eorum: „Die Trauer ist eine Unthätigkeit des Geistes, die vernachlässigt, das Gute frischweg zu thun.“ Derartige Trauer aber ist schlecht 1. an und für sich, wenn ihr Grund und ihre Veranlassung ein anscheinendes Übel ist, was aber in der Wirklichkeit ein Gut ist. Da nun ein geistiges Gut immer in Wahrheit als ein Gut dasteht, mag es auch als ein Übel äußerlich erscheinen, so ist die Trauer über ein solches Gut immer an und für sich, dem inneren Wesen nach, schlecht. Mag aber auch der Grund für die Trauer ein wirkliches Übel sein, so ist sie doch 2. schlecht in ihrer Wirkung, wenn sie nämlich dermaßen beschwert, daß sie vom guten Thätigsein ganz und gar abzieht. Deshalb will der Apostel (2. Kor. 2.) nicht, „daß der reuige Sünder von zu großer Trauer über die Sünde verzehrt werde.“ Da also die Trauer, wie sie hier in Betracht kommt, entweder an sich ein Übel ist oder in ihrer Wirkung, so ist sie immerdar eine Sünde. Denn das Übel in den Thätigkeiten des vernünftigen begehrenden Teiles nennen wir Sünde.
c) I. Je nachdem die Leidenschaften zu etwas Schlechtem hingewandt werden, sind sie zu tadeln; nicht an und für sich. Die Trauer an sich also ist weder Tugend noch Sünde. Hat sie ein Übel zum Gegenstand und ist sie geregelt, so ist sie etwas Gutes. Verbreitet sie sich über ein Gut und ist sie ungeregelt, auch wenn ein Übel ihr Gegenstand ist, so ist sie Sünde. II. Die Leidenschaften im sinnlichen Teile können an sich läßliche Sünden sein, indem sie zur Todsünde hinneigen. Und weil der sinnliche Teil an ein körperliches Organ gebunden ist, so wird gemäß der Veränderung in diesem der Mensch geeigneter zu einer Sünde. Also kann es ganz wohl geschehen, daß gemäß solcher körperlichen Veränderungen zu gewisser Zeit der Mensch zu einer Sünde mehr hinneigt und von ihr in höherem Grade bekämpft wird. Jeder körperliche Mangel nun bereitet an und für sich die Seele zur Trauer vor. Deshalb werden jene, die da fasten, um die Mittagszeit, wann sich der Mangel an Speise mehr fühlbar macht und dazu die Gluthitze der Sonne kommt, in höherem Grade von der geistigen Trägheit bekämpft. III. Die Demut lehrt dem Menschen, die eigenen Mängel zu betrachten und sich nicht zu erheben. Die von Gott erhaltenen Vorzüge aber verachten gehört zur Undankbarkeit; und aus dieser Verachtung kommt die geistige Trägheit, denn was für wertlos wir in uns erachten, darüber trauern wir wie über ein Übel. Es muß demgemäß jemand das Gute in den anderen in der Weise anerkennen, daß er das ihm selbst von Gott zu eigen verliehene Gute nicht mißachtet. IV. Die Sünde ist immer zu meiden. Manchmal aber wird die Versuchung zur selben leichter überwunden dadurch, daß man vor ihr flieht, und manchmal leichter dadurch, daß man gegen sie angeht. So mahnt der Apostel 1. Kor. 6.: „Flieht vor der Wollust;“ denn der beständige Gedanke daran mehrt den Reiz zur Sünde. Wenn aber der beständige Gedanke daran den Reiz mindert oder fortnimmt, so muß man gegen solche Versuchungen positiv angehen. Dies ist nun bei der geistigen Trauer der Fall. Je mehr die geistigen Güter betrachtet werden, desto mehr gefallen sie und schwindet die Trägheit.