Gottesliebe und Bruderliebe

„Wenn einer sagt, ich liebe Gott.“ Wen? Gott. Warum lieben wir ihn? „Weil er uns zuvor geliebt hat“ und uns die Liebe geschenkt hat. Er liebte die Sünder, um sie gut zu machen; er liebte die Ungerechten, um sie gerecht zu machen; er liebte die Kranken, um sie gesund zu machen; also wollen auch wir „ihn lieben, weil er uns zuvor geliebt hat“. Frage irgend einen, er sage dir, ob er Gott liebt. Jeder ruft da und bekennt: Ich liebe ihn, er weiß es. Um etwas anderes soll man ihn fragen: „Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, und er haßt seinen Bruder, so ist er ein Lügner.“ Wie beweist du, daß er ein Lügner ist? Höre! „Denn wie soll der, der seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, Gott lieben, den er nicht sieht?“ (4, 20.) Was also? Wer den Bruder liebt, der liebt auch Gott? Er muß Gott lieben, er muß die Liebe lieben. Kann denn einer den Bruder lieben und die Liebe nicht lieben? Er muß die Liebe lieben. Wie? Liebt also der Gott, der die Liebe liebt? Hast du es vergessen, was du vorher bekannt hast: „Gott ist die Liebe“? Wenn Gott die Liebe ist, liebt jeder Gott, der die Liebe liebt. Liebe also den Bruder und sei ohne Sorge! Du kannst nicht sagen: Ich liebe den Bruder, aber ich liebe Gott nicht, wie S. 135du lügst, wenn du sagst: ich liebe Gott, wenn du den Bruder nicht liebst. So täuschest du dich, wenn du sagst: Ich liebe den Bruder, und glaubst, daß du Gott dabei nicht liebst. Du mußt die Liebe lieben, wenn du den Bruder liebst. Die Liebe aber ist Gott. Jeder also, der den Bruder liebt, liebt notwendig Gott. Wenn du aber den Bruder nicht liebst, den du siehst, wie kannst du Gott lieben, den du nicht siehst? Warum sieht er Gott nicht? Weil er die Liebe nicht hat. Darum sieht er Gott nicht, weil er die Liebe nicht hat; darum hat er die Liebe nicht, weil er den Bruder nicht liebt; also sieht er darum Gott nicht, weil er die Liebe nicht hat. Denn wenn einer die Liebe hat, sieht er Gott; denn ,,Gott ist die Liebe“: Und sein Auge wird mehr und mehr durch die Liebe erhellt, so daß er das unwandelbare Wesen sehen kann, über dessen Gegenwart er sich immer freut, wenn er sie, verbunden mit den Engeln, in der Ewigkeit genießt. Aber jetzt eile er, um dereinst im Vaterlande sich zu freuen. Er liebe nicht die Wanderschaft, liebe nicht den Weg: alles sei ihm bitter außer dem, der ruft, bis wir ihm vollkommen anhangen und sagen, wie es im Psalm heißt: „Du hast alle vernichtet, die vor dir Schlechtes tun.“ Und welche sind es, die Schlechtes tun? Die sich von ihm entfernen und die Welt lieben. Du aber, was sagst du? Der Psalmist fährt fort und sagt: „Mir aber ist es gut, Gott anzuhangen“ (Ps. 72, 27 f.). Das ist mein ganzes Gut, Gott in Gnaden anzuhangen. Denn wenn du fragst: Warum hängst du Gott an? so spricht er: „Damit er mir etwas gebe!“ Was soll er dir geben? Den Himmel hat S. 136er geschaffen, die Erde hat er geschaffen; was soll er dir weiter geben? Schon hängst du ihm an — kannst du noch Besseres finden? — Und seiner Huld verdankst du es (Tr. 9, 10).

„Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht? Und dieses Gebot haben wir von ihm, daß der, welcher Gott liebt, auch seinen Bruder liebe“ (4, 21). Großartig, wie du sagst: Ich liebe Gott, und hassest doch den Bruder! O Menschenmörder, wie liebst du Gott? Hast du nicht etwas früher in unserem Briefe gehört: „Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Menschenmörder?“ Aber trotzdem, sagst du, liebe ich Gott, obgleich ich meinen Bruder hasse. Du liebst Gott gewiß nicht, wenn du den Bruder hassest. Ich beweise es dir sofort durch ein anderes Zeugnis. Johannes sagt: „Er hat uns ein Gebot gegeben, daß wir einander lieben“ (3, 15 23). Wie liebst du den, dessen Gebot du hassest? Wo ist einer, der sagt, ich liebe den Herrscher, aber ich hasse seine Gesetze? Daran erkennt der Herrscher, daß man ihn liebt, daß seine Gebote im Lande beobachtet werden. Welches ist das Gesetz des Herrschers? „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet“ (Joh. 13, 34). Du sagst, daß du Christus liebst. So halte denn sein Gebot und liebe den Bruder! Wenn du aber den Bruder nicht liebst, wie liebst du dann den, dessen Gebot du mißachtest?

Brüder, ich werde nicht satt, von der Liebe im Namen Christi zu reden. Ich hoffe, daß sie in gleichem Maße wie euer Verlangen danach in euch wachse und die Furcht verdränge, auf daß S. 137jene reine Furcht zurückbleibe, die von Ewigkeit zu Ewigkeit währt. Ertragen wir die Welt, ertragen wir die Drangsale, ertragen wir die Ärgernisse der Versuchungen! Weichen wir nicht vom Wege ab! Halten wir die Einheit der Kirche fest, halten wir Christus fest, halten wir die Liebe fest! Lassen wir uns nicht von den Gliedern seiner Braut losreißen, lassen wir uns nicht vom Glauben losreißen, um in seiner Gegenwart uns zu freuen; und wir werden in ihm die Ruhe finden, jetzt durch den Glauben, dereinst durch die Schau, als deren großes Unterpfand wir die Gabe des Heiligen Geistes haben (Tr. 9, 11).