8.
S. 169 O Sonne, bleib an deinem Platze stehen, bis ich vollendet, was ich begonnen habe! Und du, Mond, komm mir entgegen vom Himmel her, auf daß ich bei dir meine Mahnworte besiegle! Sonne, bleib stehen mir zu Hilfe, bis ich den Weg des Königs betreten habe, [600] verlängere die Dauer deines Lichtes, bis ich den Pfad erreicht habe! Tag, zeige mir dein Licht, bis ich mich von meiner Verirrung bekehrt habe! Nacht, wolle deine Grenze nicht überschreiten, bis ich die Ruhe erreicht habe! Richter, warte in der Stadt, bis ich mir ein Bestechungsgeschenk verschafft habe! Gerechtigkeit, verbirg deine Geißel, bis du die Bezahlung meiner Schuld erhalten hast! [610] Bräutigam, bleib im Brautgemach, bis ich mich an deinen Freund angeschlossen habe! Wolle nicht, o König, deinen Auszug beschleunigen, damit die Zahl deiner Anbeter auf Erden vermehrt werde! Tod, schleudere mich nicht in dein Feld, damit nicht von dem Unkraut, das in mir wuchert, dein Acker mit Dornen angefüllt werde und das Unkraut darauf überhand nehme! Gewähre mir lieber Aufschub, bis ich guter Weizensame geworden bin, [620] damit dein Feld durch mich gesegnet werde und dein Werk Gott wohlgefalle! Unterwelt, wolle mich nicht in deine Liste eintragen, denn meine Gebeine sind abscheulich und unrein! Laß mich nicht vor dein Angesicht kommen, bevor ich heilig geworden bin! Es gibt ja für die Unreinen noch eine Reinigung und für die Unheiligen noch eine Heiligung, für die Sünder eine Nachlassung der Sünden und für die Gottlosen eine Buße. [630] Gnade, gib mir dein Wort, daß ich wenigstens eine Stunde bußfertig sein möge! Denn von einem Augenblick zum andern werde ich von hundert Winden umhergetrieben. Minute für Minute, Stunde für Stunde bin ich bald im Stande der Gerechtigkeit, bald im Stande der Sünde. Einmal bin ich im Himmel, ein andermal krieche ich wieder im tiefsten Abgrund. Gleichzeitig mit meiner Gerechtigkeit sind auch meine Verschulden und gleichzeitig mit meiner Schuld ist auch die Furcht vor der Strafe! [640] Ich bin weder gottlos unter den Gottlosen noch auch gerecht unter den Vollkommenen. Der Sünder kennt sich selbst und bekennt S. 170 täglich seine Verfehlungen, er tut Buße wegen seiner Sünden und empfindet Schmerz ob seiner Werke. Ich aber bin weder ganz schlecht noch wahrhaft gut, sondern in der Mitte zwischen beiden, weder gottlos noch gerecht! [650] Die eine Hälfte meines Lebens zähle ich zu den Gottlosen, die andere zu den Frommen! Bei mir folgt auf das Vergehen die Buße und auf die Bekehrung wieder Sünde! Die Hoffnung auf das Heil habe ich nicht aufgegeben, aber ich kann auch nicht sagen, daß ich Gott treu gedient habe. Wenn ich auch töricht gehandelt, habe ich doch noch Mut; bin ich im Stande der Gnade, so habe ich doch auch wieder Furcht, so daß ich, wenn ich sündige, nicht ganz abfalle, aber auch nicht, wenn ich gesiegt habe, beharrlich bleibe. [660] An einem einzigen Tage ändere ich mich tausendmal und noch öfters und wie ein Rad drehe ich mich unzählige Male herum. Mit meinem Weizen ist Unkraut vermischt und mit dem Unkraut Spreu, und der gute Same ist unter den Dornen auf dem Acker deines Knechtes. Beständig wechsle ich in der Gesinnung des Knechtes und des Herrn, [670] täglich und stündlich spiele ich bald die Rolle des Königs, bald die des Bettlers. Bald bin ich der Herr der Seele bald der Sklave ihres Gefährten, des Leibes; bald erscheine ich als König mit dem Diadem, dann wieder im tiefsten Elend!
O Gott, dem die Lebenden und die Toten in gleicher Weise unterstehen, ich verlange nichts außer Dich, tue mit mir nach Deiner Barmherzigkeit! [680] Niemand anderem außer Dir allein will ich meine Not erzählen. Durch Deine vollkommene Gabe möge mir das Heil zuteil werden, um das ich Dich bitte! Gib mir Zeit in den schlimmen Tagen, auf daß ich Dir meine Sünden bekenne, bevor ich sterbe! Nicht mögen abgekürzt werden meine Tage, damit ich nicht in meinen Sünden entschlafe! Ich liebe nicht das irdische Licht, aber ich sehne mich nach dem Gewinn, der daraus zu ziehen ist; [690] nicht um langes Leben bitte ich, sondern nach dem Vorteil, der sich daraus gewinnen läßt, verlange ich. O Herr, verwandle erst meine Ähre in Brot und dann möge der Schnitter an mich herantreten! Fülle meine Traube mit S. 171 Wein, dann möge der Winzer sich nahen! Dein Wort ist inhaltsreicher als das Meer; wie wenig vermag die Zunge davon zu schöpfen! Verborgene Abgründe sind in Deinen Büchern enthalten, aber wer vermag sie zu erklären? [700] Deine Gabe reiche mir, o Herr, zur Demütigung und nicht zur Überhebung, und Deine lebenspendende Lehre möge mir eher Tadel eintragen als Ruhm!1
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Die noch folgenden 108 Verse enthalten eine Mahnung an die Buchhändler bzw. an den Abschreiber, sie möchten ja recht sorgfältig vorgehen bei der Anfertigung neuer Exemplare. Begründet ist diese Mahnung durch den Hinweis auf die schlimmen Folgen, welche aus fehlerhaft geschriebenen Texten entstehen können. Da die Partie inhaltlich kein Interesse für uns hat, zudem überhaupt nur lose mit der Homilie zusammenhängt, verzichten wir darauf, sie hier wiederzugeben. ↩