4.
„Aber noch etwas anderes lernen wir aus der Erzählung von dem Reichen und Armen, was zu unserer Frage in enger Beziehung steht. Sie läßt nämlich den Verworfenen und fleischlich Gesinnten, als er die Unabänderlichkeit seines Geschickes erkennt, in Sorge um seine auf Erden zurückgebliebenen Verwandten geraten, und als Abraham versicherte, die im Fleische Lebenden hätten keineswegs Mangel an Fürsorge, sondern reichliche Belehrung durch das Gesetz und die Propheten, läßt die Schrift den Reichen noch die weitere Bitte aussprechen, es möchte einer von den Toten auferstehen, damit sie seinen Worten wegen des Wunders Glauben schenken.“ Ich fragte sodann: „Welche Lehre liegt denn hierin?“
Sie fuhr fort: „Da Lazarus mit den irdischen Dingen vollständig gebrochen hatte und sich zu nichts mehr von dem, was er zurückgelassen, hinziehen läßt, der Reiche dagegen, auch nach dem Tode noch zäh an dem Fleischesleben festhält, das er auch am Schluß seines Erdendaseins noch nicht ganz ablegte, sondern noch um Fleisch und Blut um Sorge ist ― sein Wunsch, seine Blutsverwandten von Leid befreit zu sehen, zeigt nämlich zur Genüge, daß er von fleischlicher Zuneigung sich noch nicht frei machte ― so will uns, meine ich, der Herr durch diese Schilderung die Lehre geben, daß wir, wenn wir auch im Fleische leben, dennoch durch einen Wandel der S. 290 Tugend uns von dem Hang zum Fleische möglichst trennen und ablösen sollen, damit wir nach dem Tode nicht noch eines zweiten Todes zur Reinigung von aller fleischlichen Anhänglichkeit bedürfen, sondern die Seele, nachdem sie ihre Fessel zerrissen, leicht und frei in das Land des Guten eilen könne, ohne von der Bürde niedergezogen zu werden, welche der Körper verursacht. Wenn nun jemand in seinem Geiste dadurch, daß er mit jeder Kraft und Regung der Seele den Gelüsten des Fleisches nachkam, selbst Fleisch geworden, so wird ein solcher Mensch, auch wenn er das Fleisch verläßt, keineswegs von den Leidenschaften des Fleisches getrennt, sondern ähnlich wie jene, welche längere Zeit an übelriechenden Orten sich aufhielten, durchaus nicht, selbst wenn sie in die frische, reine Luft kommen, sofort vom Gestank frei werden, in welchem sie länger verweilten und welchen sie dadurch in sich aufnahmen, so ist es für die Fleischesmenschen bei ihrem Übergang in das körperlose und geistige Leben unmöglich, sofort allen üblen Geruch des Fleisches vollständig abzustreifen; ihre Qual wird dadurch noch schmerzlicher, weil ihre Seele gleichsam materialisiert worden war. Mit dieser Meinung scheint in Übereinstimmung zu stehen, was von manchen erzählt wird, daß nämlich an den Begräbnisstätten der Leiber sich oft schattenhafte Gestalten von Verstorbenen sehen lassen; das ist ein Beweis dafür, daß die Seele auch jetzt noch dem Fleischesleben in übertriebener Weise anhängt, so daß sie auch nach ihrer Vertreibung aus dem Fleische noch immer nicht von demselben fortfliegen will und die völlige Umwandlung der sichtbaren Gestalt in eine unsichtbare nicht zulassen möchte, sondern auch nach der Zerstörung des körperlichen Gebildes bei diesem zu verbleiben wünscht und deshalb sehnsuchtsvoll an den Orten der Materie umherirrt und in deren Nähe sich aufhält, obgleich sie doch den materiellen Leib schon verließ.“§ 12. Die Affekte der Seele nach dem Tode.