71. Geringfügiger Worte wegen darf man nicht streiten, wenn man über die Sache eins ist.
„Denn daß euer Streit über unbedeutende und ganz geringfügige Fragen für ein so großes Volk Gottes, das S. 89unter eurer Einsicht geleitet werden sollte, Anlaß zu Zwiespalt wird, das kann weder für geziemend noch überhaupt für recht gehalten werden. Um aber eure Einsicht durch ein kleines Beispiel zu gemahnen, so höret: Ihr wißt doch wohl, daß auch die Philosophen insgesamt einer Lehre beipflichten, oft aber in irgend welchen Aussprüchen über einzelne Punkte verschiedener Ansicht sind und doch, auch wenn sie sich kraft ihrer wissenschaftlichen Tüchtigkeit trennen, durch die Einheit der ganzen Lehre sich wieder miteinander verständigen. Wenn dem nun so ist, um wieviel mehr ist es recht, daß wir, die wir zu Dienern des großen Gottes aufgestellt sind, unter uns einmütig in solcher Gesinnung hinsichtlich der Gottesverehrung sind? Wohlan denn, betrachten wir das Gesagte noch mehr und noch reiflicher mit unserm Geiste und unserm Verständnis, ob es denn recht ist, wenn wegen eures geringfügigen und nichtigen Streites um Worte Brüder gegen Brüder stehen und die kostbare Gemeinsamkeit in gottlosem Zwiste durch uns gespalten wird, weil wir miteinander wegen so unbedeutender und durchaus nicht notwendiger Fragen streiten. Dem gemeinen Volke käme das zu und für unvernünftige Knaben würde es sich besser schicken als einsichtigen Priestern und verständigen Männern anstehen. Lassen wir aus eigenem Antrieb ab von den Versuchungen des Teufels! Unser großer Gott, der Erlöser aller, hat ein gemeinsames Licht über alle leuchten lassen. Unter dem Schutze seiner Vorsehung lasset mich, den Diener des Höchsten, zur Ausführung bringen, was mein guter Eifer sich vorgenommen hat, auf daß ich seine Völker durch meine Worte, meine Dienstleistungen und eindringlichen Mahnungen zu einträchtigem Verkehr zurückführe. Denn da, wie gesagt, wir einen Glauben haben und eine Auffassung von unserer Religion, da ferner das Gebot des Gesetzes durch seine einzelnen Bestandteile machen will, daß das Ganze eines Herzens und eines Willens sei, darf diese Frage, die unter euch einen kleinen Zwist hervorgerufen hat, doch durchaus keine Spaltung und Trennung bei euch veranlassen, weil sie ja nicht das Wesen des ganzen Gesetzes berührt. Und dieses sage ich nicht als S. 90ob ich euch zwingen wollte, durchaus in dieser einfältigen Frage, wie sie auch immer lauten mag, derselben Meinung zu sein; denn es kann die kostbare Gemeinsamkeit unversehrt erhalten und ein und dieselbe Gemeinschaft in allem bewahrt bleiben, wenn auch eine ja doch höchstens nur teilweise Meinungsverschiedenheit über ganz geringfügige Punkte unter euch entsteht; wir haben ja auch nicht in allen Stücken dieselben Wünsche noch auch ist es eine Art und eine Meinung, die in uns herrschen. Hinsichtlich der göttlichen Vorsehung soll ein Glaube, eine Auffassung, eine gemeinsame Ansicht über das höchste Wesen bei euch herrschen; was ihr aber über diese so unbedeutenden Fragen untereinander ausklügelt, möget ihr auch hierin nicht einer Meinung sein, sollte in eurem Geiste verbleiben, wohl verwahrt in eurem geheimsten Denken. Das herrliche Gut gemeinsamer Freundschaft jedoch, der Glaube an die Wahrheit, die Ehrfurcht vor Gott und der Beobachtung des Gesetzes soll bei euch unerschütterlich feststehen. So kehret denn zurück zu gegenseitiger Freundschaft und Liebe, zeiget dem gesamten Volke eure herzlichen Umarmungen wieder, erkennet euch selbst wieder an, nachdem ihr euer Herz gleichsam gereinigt habt, denn inniger wird oft die Freundschaft, die, nachdem die Feindschaft beseitigt ist, von neuem durch Versöhnung zustande kommt.