6.
Also nicht zur Abschaffung des Gesetzes, sondern zu seinem besseren Schutze hat der Herr diese Vorschrift gegeben, Denn zu welchem Zweck hat das Gesetz solches vorgeschrieben? Doch wohl, damit keiner seinem Nächsten das Leben nehme? Das Gesetz bekämpfen war also soviel als den Mord zur Pflicht machen; Denn das Gegenteil von „Nicht töten“ ist eben das Töten. Wenn Christus hingegen sogar das bloße Zürnen verbietet, so hat er damit den Zweck des Gesetztes nur um so sicherer gestellt. Wer nämlich den Willen hat, bloß nicht zu töten, wird von einem Morde nicht ebenso leicht abstehen, als wer selbst seinen Zorn beherrscht; denn der steht einem solchen Verbrechen um vieles ferner. Um sie aber auch von einer anderen Seite zu fassen, wollen wir all ihre Einwände vornehmen. Was haben sie also vorzubringen? Sie sagen, der Gott, der die Welt erschaffen hat, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Schlechte, der den Gerechten wie den Ungerechten Regen sendet, der muss ein böses Wesen sein. Jene allerdings, die etwas maßvoller urteilen, nehmen dies nicht an; sie sagen, er sei ein gerechter Gott, wollen aber damit verneinen, dass er gut sei. Dafür geben sie Christus einen anderen Gott zum Vater, der in Wirklichkeit gar nicht existiert, und der nichts von dem gemacht haben soll, was ist. Und der Böse, sagen sie, beschränke sich S. 285auf seinen eigenen Bereich und behüte nur das Seine; der Gute aber dränge sich in fremdes Gebiet ein, und wolle ohne Grund der Erlöser von Geschöpfen werden, die er gar nicht gemacht habe. Siehst du da die Kinder des Teufels, und wie dieser ihr Vater ihnen ihre Reden eingibt, wenn sie Gott die Schöpfung absprechen, während doch Johannes sagt: „Er kam in sein Eigentum“ und: „Die Welt ist durch ihn erschaffen worden“?1
Dann nehmen sie das Gesetz des Alten Bundes vor, das da befiehlt, Aug um Aug und Zahn um Zahn zu fordern, und wenden sogleich ein: Aber wie kann einer gut sein, der also spricht? Was sollen wir darauf erwidern? Dass eben hierin die Liebe Gottes zu den Menschen sich am meisten kundgibt. Gott hat ja dieses Gesetz nicht deshalb gegeben, damit wir anderen die Augen ausreißen, sondern damit die Furcht vor Wiedervergeltung uns abschrecke, anderen so etwas zu tun. Auch den Einwohnern von Ninive drohte er ja den Untergang, nicht um sie wirklich zu verderben2 , sondern damit sie in ihrer Furcht sich besserten und so seinen Zorn besänftigten. Ebenso hat er auch eine Strafe festgesetzt für diejenigen, die sich verwegen an den Augen anderer vergreifen. Denn wenn sie schon gutwillig nicht von ihrer Roheit ablassen wollen, so soll wenigstens die Furcht sie daran hindern, die Augen des Nächsten zu schädigen. Wenn das aber eine Grausamkeit ist, so ist es auch grausam, jemand vom Morde abzuhalten und den Ehebruch zu verhindern. Doch solche Einwände machen nur Toren und Leute, die allen Verstand verloren haben. Ich hingegen nenne dies so wenig eine Grausamkeit, dass ich es vielmehr für eine Sünde gegen den gesunden Menschenverstand erkläre, das Gegenteil zu behaupten. Du sagst also, Gott sei deshalb grausam, weil er befohlen, Aug um Auge auszureißen. Ich aber sage, hätte er dies nicht getan, dann möchten ihn vielleicht die meisten für das halten, wofür du ihn ausgibst. Setzen S. 286wir doch einmal den Fall, jegliches Gesetz sei aufgehoben und keiner brauche seinetwegen mehr Furcht zu haben; vielmehr soll es den Bösen erlaubt sein, vollkommen frei und furchtlos ihren Neigungen nachzugehen, den Ehebrechern, den Mördern, den Dieben, den Meineidigen, den Vatermördern! Würde denn da nicht alles drunter und drüber gehen, würden nicht die Städte und Märkte und die Wohnhäuser, Land und Meer, ja die ganze Welt tausendfach erfüllt werden von Feindschaft und Mord? Das sieht doch jeder ein! Wenn die Böswilligen schon trotz der bestehenden Gesetze, trotz Furcht und Drohung nur mit Mühe in Schranken gehalten werden, was würde sie da noch vom Bösen abhalten, wenn auch diese Schutzwehr fiele?
Welche Kloake von Schmutz und Sünde würde sich da nicht über die Menschheit ergießen! Nicht bloß das ist ja eine Grausamkeit, den Bösen erlauben, zu tun, was sie wollen; eine andere nicht geringere Grausamkeit ist es, denjenigen schutzlos zu lassen, der niemand etwas zuleide getan, während ihm ohne Grund und Ursache Böses zugefügt wird. Sage mir doch, wenn jemand aus allen Himmelsgegenden verworfene Menschen zusammenriefe, sie mit Schwertern bewaffnete und ihnen Befehl gäbe, die ganze Stadt zu umzingeln, und jeden, der ihnen in den Weg kommt, niederzumachen, gäbe es da wohl etwas Unmenschlicheres als dies? Wie aber, wenn dann ein anderer diese bewaffneten Horden in Fesseln schlüge und sie ohne Erbarmen in den Kerker würfe, und diejenigen, die schon in Gefahr standen, hingeschlachtet zu werden, aus deren ruchlosen Händen befreite, gäbe es da etwas Verdienstlicheres als dies? Wende also nur dieses Beispiel auf das Gesetz des Alten Bundes an. Derjenige, der da befohlen, Aug um Auge auszureißen, hat den Bösen durch die Furcht gleichsam starke Fesseln angelegt, und ist dem ähnlich, der jene Bewaffneten eingekerkert hat. Hätte er ihnen aber keine Strafe angedroht, so hätte er nur das Verbrechen gleichsam bewaffnet, und wäre demjenigen gleich geworden, der jenen Menschen Schwerter in die Hand gab und sie gegen die ganze Stadt losließ.