3.
Auch anderswo sehen wir Christus oft das gleiche Verfahren einschlagen. Er tadelt nicht offen, lässt aber aus seiner Antwort die Gesinnung derer erkennen, die sich an ihn wandten. Auch jenem, der da sagt: "Guter Meister", und ihn mit dieser Schmeichelei zu gewinnen hoffte, antwortete er entsprechend seiner Gesinnung: "Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer einem und das ist Gott"1 . Ein anderes Mal sagte man ihm: "Siehe, Deine Mutter und Deine Brüder suchen Dich!"2 . Doch war der Grund ihres Kommens menschliche Eitelkeit; nicht um etwas zu hören, was ihrer Seele Nutzen gebracht hätte, sondern um zu zeigen, dass sie mit ihm verwandt waren, und sich damit vor den Leuten zu zeigen. Darum höre, was der Herr ihnen antwortete: "Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?"3 . Und als seine Brüder zu ihm sagten: "Offenbare Dich vor der Welt", weil sie dadurch berühmt werden wollten, erwiderte er: "Eure Zeit ist immer bereit, die meine ist noch nicht gekommen"4 . Aber auch der umgekehrte Fall kam vor, wie zum Beispiel bei Nathanael. Zu ihm sagte er: "Siehe, das ist ein wahrer S. d389 Israelite, in dem kein Falsch ist"5 . Und ein andermal sagte er: "Gehet hin und meldet dem Johannes, was ihr hört und seht!"6 . Hier war eben seine Antwort nicht auf den Wortlaut der Frage zugemessen, sondern auf die Absicht dessen, der die Fragesteller gesendet hatte. Auch zu der Volksmenge sagte der Herr entsprechend ihrer Seelenverfassung: "Was wollt ihr sehen, dass ihr in die Wüste herausgekommen seid?" Wahrscheinlich hielten sie den Johannes für einen einfältigen und wankelmütigen Menschen; deshalb wollte der Herr sie eines Besseren belehren und sagte: "Was wollt ihr sehen, dass ihr in die Wüste herausgekommen seid? Ein Rohr, das im Winde hin und herschwankt, oder einen Menschen, der weichliche Kleider anhat?"7 . Durch beide Fragen zeigt er, dass Johannes von Natur aus weder wankelmütig ist, noch durch weichliches Leben sich beugen lasse. So antwortet der Herr also auch in unserem Falle so, wie es der Gesinnung des Fragenden entsprach. Beachte aber, wie überaus maßvoll er auch hierbei verfährt. Er sagt nicht: Ich habe zwar all dies, aber ich verachte es, sondern: "Ich habe nicht." Siehst du, wie treffend und zugleich herablassend er antwortet? Wenn er ißt und trinkt, wenn er etwas tut, was der Lebensweise des Johannes scheinbar zuwider ist, so tut er auch das nur zum Besten der Juden, oder vielmehr der ganzen Welt; denn er bringt damit nicht bloß den Mund der Häretiker zum Schweigen, sondern bemüht sich zu gleicher Zeit, auch noch seine Zeitgenossen mit Macht an sich zu ziehen.
V.21: "Wieder ein anderer sprach zu ihm: Herr, erlaube mir zuerst hinzugehen, um meinen Vater zu begraben,"
Bemerkst du den Unterschied? Wie der eine keckerweise sagt: "Ich will dir folgen, wohin immer Du gehen wirst", während dieser, der doch eine gute und fromme Bitte stellt. erwidert: "Erlaube mir." Der Herr gab aber die Erlaubnis nicht, vielmehr antwortet er ihm:
V.22: "Lass die Toten ihre eigenen Toten begraben; du aber folge mir nach."
Überall richtet er sich eben nach der geistigen Verfassung des Fragenden. Warum hat er aber das nicht erlaubt, fragst du? Weil ohnehin noch Leute da waren, die diese Arbeit verrichten konnten und der Tote nicht unbegraben geblieben wäre; und es war nicht recht, den Fragenden von notwendigeren Dingen abzuziehen. Mit den Worten: "ihre eigenen Toten" deutet aber der Herr an, dass dieser Tote nicht sein Toter war. Der Verstorbene gehörte eben nach meiner Meinung zu den Ungläubigen. Wenn du dich aber wunderst, dass der Jüngling wegen einer so notwendigen Sache den Herrn fragte und nicht einfach von selbst wegging, so wundere dich vielmehr darüber, dass er auf das Verbot hin dablieb. War es aber nicht äußerst undankbar, dem Begräbnis des eigenen Vaters nicht beizuwohnen? Nun, hätte er es aus Gleichgültigkeit nicht getan, so wäre es Undankbarkeit gewesen; nachdem es aber galt, etwas, was noch notwendiger war, nicht zu hindern, so wäre vielmehr sein Weggang äußerst unklug gewesen. Es war ja Christus, der ihn daran hinderte, und zwar nicht um uns zur Missachtung der den Eltern schuldigen Ehrfurcht anzuleiten, sondern um uns zu zeigen, dass uns nichts wichtiger sein soll als das, was den Himmel betrifft, dass wir uns mit dem größten Eifer um diese Dinge bekümmern müssen und sie nicht einen Augenblick aufschieben dürfen, wenn auch das, was uns davon abziehen will, noch so unaufschiebbar und dringend sein mag. Oder was gäbe es sonst Notwendigeres, als seinen Vater zu begraben? Was Leichteres? Der Jüngling hätte ja gar keine lange Zeit darauf zu verwenden brauchen. Wenn es aber schon nicht angeht, den geistigen Angelegenheiten auch nur soviel Zeit zu entziehen, als notwendig ist, um seinen Vater zu begraben, so bedenke, was wir wohl verdienen, wenn wir die ganze Zeit uns fernhalten von dem, wozu Christus uns verpflichtet, wenn wir ganz wertlose Dinge dem Notwendigen vorziehen, und uns einfach gehen lassen, solange niemand uns drängt? Auch darin müssen wir die Weisheit seiner Lehre bewundern, dass er den Mann mit seinem Worte so S. d391 festgewonnen hat; außerdem ersparte er ihm auch dadurch eine Menge von Unannehmlichkeiten, wie zum Beispiel die Totenklage, die Trauer und alles, was damit zusammenhängt. Denn nach dem Begräbnis hätte er sich um das Testament kümmern müssen und um die Erbschaftsteilung und um alles andere, was ein Sterbefall mit dich zu bringen pflegt. So hätte ihn eine Weile um die andere erfasst und ihn unendlich weit vom Hafen der Wahrheit weggetrieben. Deswegen hält ihn der Herr zurück und zieht ihn fester an sich. Wenn du dich aber noch immer wunderst und nicht weißt, was du davon halten sollst, dass ihn der Herr nicht erlaubte, dem Begräbnis seines Vaters beizuwohnen, so bedenke, dass viele Leute nicht erlauben, dass man Angehörigen, die krank sind, einen vorgekommenen Trauerfall mitteile oder dass sie dem Trauerzuge folgen, und wäre der Verstorbene auch der eigene Vater oder die Mutter oder ein Kind oder wer immer sonst aus der Verwandtschaft. Deshalb beschuldigen wir sie nicht der Rohheit und Unmenschlichkeit; und wir tun gut daran. Viel eher wäre ja das Gegenteil Rohheit, wenn man solche Kranke zur Teilnahme am Trauerzuge veranlassen wollte.