4.
Wenn du aber dieses Verhör anstellst, darf niemand dabei sein; niemand soll dich stören; sondern wie die Richter hinter einem Vorhang sitzen und richten, so suche auch du anstatt des Vorhangs eine ruhige Zeit und einen ruhigen Ort. Und wenn du nach dem Mahle aufstehst und dich anschickst, zu Bette zu gehen, dann stelle diese Gerichtssitzung an; das ist die rechte Zeit für dich; der Gerichtssaal aber ist dein Bett und dein Schlafgemach. Also befiehlt uns auch der Prophet mit den Worten: „Was ihr in euren Herzen sprecht, das bereut auf euren Lagern“1 . Auch für geringe Dinge verlange strenge Rechenschaft, damit du nicht später einmal an große dich heranwagst. Wenn du dies jeden Tag tust, dann kannst du einmal ruhig vor jenen furchtbaren Richterstuhl2 hintreten. Auf diese Weise hat der hl. Paulus sich gereinigt. Deshalb sagte er auch: „Wenn wir uns selbst richten, werden wir nicht gerichtet werden“3 . So hat Job seine Kinder reingewaschen4 . Denn wenn er für unbekannte Sünden schon Sühneopfer darbrachte, so verlangte er gewiss noch viel eher Rechenschaft über die, die er kannte. Wir dagegen handeln nicht so; wir tun das gerade Gegenteil. Sowie wir uns zu Bette legen, denken wir nur noch an alle möglichen irdischen Dinge; die einen fangen an, unreine Reden zu führen, die anderen reden von Zinsen, von Verträgen und eitlen Sorgen. Wenn wir eine Tochter haben, die noch Jungfrau ist, so bewachen wir die mit großer Sorgfalt; unsere Seele dagegen, die für uns noch mehr wert ist als eine Tochter, die lassen wir Unzucht treiben und sich beschmutzen, indem wir tausend schlechten Gedanken den Zutritt gewähren. Da mag es die Leidenschaft des Geizes sein, oder Schwelgerei, oder Fleischeslust, oder Zorn, oder S. d610 was immer sonst den Eintritt begehrt, wir öffnen die Tore weit, wir ziehen sie und rufen sie herein und erlauben ihnen viele Schamlosigkeiten und Unzucht mit der Seele zu treiben.
Was könnte es da Roheres geben, als wenn wir es für etwas Geringfügiges erachten, dass unsere Seele, die doch das Kostbarste ist, was wir besitzen, von so vielen Ehebrechern geschändet wird und so lange mit ihnen vereint bleibt, bis sie gesättigt sind? Das trifft aber niemals ein! Deshalb gehen diese Ehebrecher erst dann fort, wenn der Schlaf die Seele überwältigt; ja nicht einmal dann; denn auch die Träume und die Phantasie stellen der Seele die gleichen Bilder vor. Deshalb tut auch eine Seele, die solche Vorstellungen in sich gehegt, gar oft am Tag Dinge, mit denen ihre Phantasie im Schlafe sich beschäftigt hat. In die Pupille deiner Augen lässt du auch nicht das kleinste Stäubchen fallen; wenn aber deine Seele den Unrat so großer Sünden hinter sich herschleppt, so achtest du es nicht. Wann werden wir also diesen Schmutz einmal entfernen können, den wir Tag für Tag anhäufen? Wann werden wir endlich die Dornen aushauen? Wann den guten Samen streuen? Weißt du nicht, dass die Zeit der Ernte schon bevorsteht? Und wir haben noch nicht einmal daran gedacht, die Ackerfurchen zu ziehen! Wenn also der Eigentümer des Bodens kommt und uns tadelt, was werden wir sagen? Was werden wir antworten? Es hat uns niemand Samen gegeben? Aber er wird doch jeden Tag ausgestreut. Oder es hat niemand die Dornen ausgerodet? Aber wir schleifen ja die Sichel Tag für Tag. Oder die eitlen Sorgen und Nöten ziehen uns ab? Ja, warum hast du dich selbst nicht der Welt gekreuzigt? Wenn schon diejenigen für schlecht gelten, die die erhaltenen Gaben einfach niederlegten, ohne sie zu verdoppeln, was wird dann der zu hören bekommen, der auch sie noch verloren hat? Wenn der andere gefesselt und hinausgeworfen wurde, wo Zähneknirschen ist, was wird dann uns geschehen, die wir uns überhaupt dem Guten aus Trägheit entziehen, obgleich tausend Dinge uns zur Tugend antreiben? Denn was wäre nicht geeignet, dich zur Tugend anzuregen? Siehst du nicht, S. d611 wie wertlos das Leben ist und wie unsicher? Wieviel Mühen uns die zeitlichen Dinge verursachen und wieviel Schweiß? Oder glaubst du vielleicht, nur die Tugend verlange Anstrengung, das Laster nicht? Wenn aber mit dem einen wie mit den anderen Mühen verbunden sind, warum behältst du nicht lieber diese, die dir soviel Nutzen bringen? Man kann aber sogar Tugenden üben, die keine Mühen verursachen. Oder welche Mühe macht es, nicht böse zu reden über andere, nicht zu lügen, nicht zu schwören, dem Nächsten zu verzeihen? Ja, das Gegenteil davon zu tun, das verursacht Mühen und bringt viele Sorgen. Welche Entschuldigung werden wir also haben, welche Nachsicht verdienen, wenn wir nicht einmal solche gute Werke tun wollen? Denn daraus ergibt sich ja klar, dass auch jene Verdienste, die schwieriger zu erringen sind, nur ob unserer Lauheit und Trägheit uns entgehen. All das wollen wir also wohl erwägen, wollen das Böse meiden und die Tugend zu erlangen suchen, auf dass wir sowohl der gegenwärtigen wie der zukünftigen Güter teilhaft werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, der Ehre und Macht besitzt in alle Ewigkeit. Amen!