4.
Hören sollen das alle, die vor dem Leiden des Kreuzes Christi zurückschrecken. Wenn schon der Oberste1 wegen seiner Furcht ein Satan genannt wurde, und dies, bevor er noch über alles eine klare Erkenntnis erlangt hatte, welche Entschuldigung können dann diejenigen haben, welche das Werk der Erlösung nach so vielen, klaren Beweisen noch leugnen? Wenn Petrus, der so feierlich selig gepriesen worden war, der ein so herrliches Bekenntnis abgelegt hatte, so harte Worte hören muss, so kannst du dir denken, was mit denen geschehen wird, welche nach all dem das Geheimnis des Kreuzes verwerfen? Der Herr sagte nicht: Der Satan hat aus dir gesprochen, sondern:
V.23: „Weiche zurück hinter mich, Satan.“
Es war nämlich das Verlangen des Widersachers, Christus möge nicht leiden. Deshalb schalt ihn der Herr mit so scharfen Worten, weil er wusste, dass Petrus und die übrigen Scheu davor hatten und sich nicht gelassen darin fanden. Deshalb enthüllt er ihnen auch seine geheimen Gedanken: „Du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was des Menschen ist.“ Was heißt aber das: „Du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist“? Weil Petrus S. d777 an diese Sache nur den menschlichen und irdischen Maßstab anlegte, glaubte er, es sei für Christus schimpflich und ungeziemend. Um ihn also zu widerlegen, sagt er: Dass ich leide, ist nicht ungeziemend, wohl aber urteilst du nur dem Fleische nach; hättest du die fleischliche Gesinnung abgelegt und im Sinne Gottes meine Worte angehört, so wüsstest du, dass gerade darin meine eigentliche Aufgabe besteht. Du meinst, das Leiden sei meiner unwürdig; ich aber sage dir, es entspricht der Absicht des Teufels, dass ich nicht leide. Auf diese Weise überwindet er seinen Widerstand durch den Hinweis auf das Gegenteil. Ähnlich brachte er auch Johannes, der sich für unwürdig hielt, ihn zu taufen, dazu, dass er ihn taufte, indem er sprach: „Also geziemt es uns“2 . Desgleichen überzeugte er Petrus selbst, der ihn abhalten wollte, ihm die Füße zu waschen, mit den Worten: „So ich dich nicht wasche, hast du keinen Teil an mir“3 . So weist er ihn auch jetzt durch Hinweis auf das Gegenteil in die Schranken und erstickt seine Furcht vor dem Leiden durch eine strenge Zurechtweisung.
Niemand schäme sich also des ehrwürdigen Zeichens unserer Erlösung, der größten aller Wohltaten, durch die wir leben, durch die wir sind. Wir wollen vielmehr das Kreuz Christi wie eine Krone tragen. Denn durch das Kreuz wird ja unser ganzes Heil vollbracht. So oft jemand wiedergeboren wird, ist das Kreuz dabei; so oft er genährt wird mit jener geheimnisvollen Speise, so oft jemand geweiht wird, so oft irgendeine andere Handlung vorgenommen wird, überall steht dieses Zeichen des Sieges und zur Seite. Deshalb zeichnen wir es voll Eifer auf die Häuser, Wände und Fenster, auf die Stirn und auf das Herz. Ist es ja doch das Sinnbild unserer Erlösung, unserer gemeinsamen Befreiung, sowie der Güte unseres Herrn. „Wie ein Lamm wurde er zur Schlachtbank geführt“4 . So oft du dies also mit dem Kreuze bezeichnest, beherzige alles, was im Kreuze liegt, dämpfe den Zorn und alle übrigen Leidenschaften. S. d778 Wenn du dich bekreuzest, erfülle deine Stirn mit großer Zuversicht, mache deine Seele frei. Ihr wisset doch sicherlich, wodurch wir die Freiheit erlangen. Um uns dafür zu gewinnen, für die Freiheit nämlich, die uns zukommt, erwähnt Paulus das Kreuz und das Blut des Herrn, indem, er spricht: „Um einen Preis seid ihr erkauft worden; werdet nicht Sklaven der Menschen“5 . Er will sagen: Bedenke, was für ein Preis für dich bezahlt worden ist und du wirst keines Menschen Knecht sein; das Kreuz nennt er nämlich einen Kaufpreis. Man darf das Kreuz aber nicht einfach nur mit dem Finger machen, sondern zuerst mit dem Herzen, voll innigen Glaubens. Wenn du es in dieser Weise auf deine Stirne zeichnest, dann wird dir kein unreiner Geist nahen, weil er die Waffe sieht, die ihm die Wunde geschlagen, das Schwert, das ihm den tödlichen Streich versetzte. Wenn wir beim Anblick der Richtstätten erschaudern, was wird wohl der Teufel empfinden beim Anblick der Waffe, mit der Christus seine ganze Macht gebrochen und dem Drachen den Kopf abgehauen hat?
Schäme dich also nicht eines so großen Gutes, damit auch Christus sich deiner nicht schäme, wenn er in seiner Herrlichkeit kommen und wenn vor ihm sein Zeichen erscheinen wird, leuchtender als die Strahlen der Sonne. Ja, dann wird das Kreuz kommen und durch sein Erscheinen laut predigen, wird über die ganze Erde für den Herrn Zeugnis ablegen und zeigen, dass er nichts unterlassen hat von dem, was von ihm abhing. Dieses Zeichen hatte schon zur Zeit unserer Vorfahren und hat auch jetzt noch die Kraft, verschlossene Türen zu öffnen, Giftmittel unschädlich zu machen, dem Schierling seine Wirkung zu nehmen, vom Bisse giftiger Tiere zu heilen; denn wenn es die Pforten der Vorhölle erschloß, das Tor des Himmels öffnete, den Eingang zum Paradiese wieder auftat und die Fesseln des Teufels sprengte, was braucht man sich da zu wundern, dass es mächtiger ist, als giftige Tränke und Tiere und alles andere der Art?