IV.
„Warum glauben denn jetzt nicht Alle?“ Weil die Dinge schlimmer geworden, und zwar aus unserer Schuld (wir kommen endlich auf uns selber zu sprechen). Denn zur Zeit der Apostel glaubte man nicht nur wegen der Wunder; Viele wurden auch durch den Wandel der Christen angezogen: „Euer Licht leuchte vor den Menschen,“ heißt es, „auf daß sie euere guten Werke sehen und eueren Vater preisen, der im Himmel ist;“1 und: „Alle hatten ein Herz und eine Seele; und nicht Einer nannte von seinem Vermögen noch Etwas sein, sondern sie hatten Alles mit einander gemein und theilten es unter Alle, Jedem nach seinem Bedürfniß;“2 und sie führten ein englisches Leben. Auch jetzt werden wir, wenn Dieß geschieht,3 auch ohne Wunder den ganzen Erdkreis bekehren. Indessen sollen Diejenigen, die da selig werden wollen, auf die Schrift merken; denn darin werden sie diese und zwar noch mehr Tugendbeispiele finden. Die Lehrer selbst haben, in Hunger und Durst und Blöße lebend, jene Tugenden noch übertroffen. Wir aber wollen in vieler Üppigkeit, in Ruhe und Ungebundenheit leben; nicht so Jene; vielmehr riefen sie aus: „Bis auf diese Stunde leiden wir Hunger und Durst, sind nackt und werden geschlagen und haben keine bleibende Stätte.“4 Der Eine von ihnen eilte von Jerusalem bis nach Illyrien, der S. 99 Andere nach Indien, wieder ein Anderer nach Mauretanien, Andere in andere Welttheile. Wir hingegen wagen uns nicht einmal aus dem Vaterlande hinaus, wir trachten nach Sinnengenuß, nach prächtigen Häusern und allem andern Überfluß. Denn wer von uns hat wohl um des göttlichen Wortes willen je Hunger gelitten? Wer ist deßhalb in der Einöde gewesen? Wer hat eine große Reise unternommen? Welcher von den jetzt lebenden Lehrern hat durch seine Handarbeit Andern Hilfe geleistet? Wer hat täglich Todesgefahr ausgestanden? Daher kommt es, daß auch Diejenigen, die uns umgeben, träger werden. Sieht man Krieger und Heerführer, die mit Hunger und Durst, mit dem Tode und allen Schrecknissen kämpfen, Kälte und Gefahren und Alles ertragen und sich tapfer, wie Löwen, halten und nachmals diese Strenge verlassen, der Weichlichkeit fröhnen, das Geld lieben; sich mit Handel und Wirthschaft befassen und den Feinden erliegen: so wäre es die größte Thorheit, den Grund davon zu erforschen. Das müssen wir nun auch auf uns und unsere Ahnen anwenden; denn wir sind schwächer geworden als Alle und kleben an den zeitlichen Dingen. Und wenn sich auch noch Einer findet, der eine Spur der alten Weisheit an sich trägt, so verläßt er die Stadt und den Markt und zieht sich auf die Berge zurück, anstatt in der menschlichen Gesellschaft zu leben und Andre zu bilden. Und fragt man ihn nach der Ursache dieser Zurückziehung, so findet er eine Ausrede, die keine Verzeihung verdient. Ich ziehe mich zurück, heißt es, damit ich nicht zu Grunde gehe und in der Tugend nicht ermatte. Um wie viel besser wäre es, daß du davon Etwas verlörest und Andere gewännest, als daß du auf deiner Höhe bleibest und deine Brüder verderben lässest! Wenn sich nun die Einen um die Tugend nicht kümmern, die Andern aber, denen es damit Ernst ist, vom Kampfplatze weichen, wie sollen wir dann die Feinde besiegen? Denn wenn auch jetzt noch Wunder geschähen, wer würde dadurch gewonnen werden? Welcher Ungläubige würde uns Gehör schenken, da die Schlechtigkeit so sehr die Oberhand hat? Unser guter S. 100 Lebenswandel kommt den Meisten weit glaubwürdiger vor. Denn Wunder werden vor unverschämten und boshaften Leuten noch einen schlimmen Verdacht erwecken, ein reines Leben aber wird selbst dem Teufel vollends das Maul zu stopfen vermögen. Das sage ich den Vorgesetzten und den Untergebenen und vor Allem mir selber, damit wir einen bewunderungswürdigen Wandel zeigen, uns selbst in Ordnung halten und alles Gegenwärtige gering schätzen. Verachten wollen wir das Geld, aber nicht verachten die Hölle, gering schätzen die Ehre, aber nicht gering schätzen das Seelenheil. Hienieden wollen wir Müh’ und Arbeit ertragen, damit wir jenseits nicht der Strafe verfallen.
So laßt uns die Heiden bekämpfen, so sie zu Gefangenen machen; diese Gefangenschaft ist besser als Freiheit. Zwar sage ich Dieses oft und anhaltend, aber selten wird es befolgt. Jedoch mag es nun befolgt oder nicht befolgt werden, so ist es billig, euch stets daran zu erinnern. Denn wenn Manche durch sanfte Worte die Menschen verführen, so dürfen Diejenigen, welche Andere zur Wahrheit hinführen wollen, um so weniger ermüden, das Nützliche zu sagen. Denn wenn die Verführer so viele Kunstgriffe anwenden, — denn sie wenden Geld auf, bieten ihre Beredsamkeit auf, bestehen Gefahren und stellen Ehrenstellen in Aussicht, — so müssen um so mehr wir, die wir Andere vor der Verführung zurückziehen sollen, Gefahren und Tod und Alles ausstehen, auf daß wir, unüberwindlich den Gegnern, uns selbst und die Andern retten und der verbeissenen Güter theilhaftig werden durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit u. s. w. Amen.
