VI.
Was ist ehrenvoller, was beseligender, was bequemer als diese Sprache? Andere rühmten sich des Gegentheiles und sprachen: Ich besitze so und so viele Talente Goldes, unermeßliche Ländereien, Häuser und Sklaven; Dieser hingegen, von Allem entblößt, schämt sich der Armuth nicht, wie die Unverständigen thun; er erröthet darüber nicht, sondern rühmt sich ihrer sogar.
Wo sind nun die Reichen, die ihre Zinsen berechnen und Zinsen von Zinsen, die nach Allem die Hände ausstrecken und niemals gesättiget werden? Habt ihr die Stimme des Petrus gehört, die da lehrt, daß die Armuth eine Mutter des Reichthumes ist? daß Der, welcher Nichts besitzt, reicher ist als ein Kronenträger? Dieser Arme, der Nichts besaß, erweckte Todte, stellte Lahme wieder her, trieb Teufel aus und spendete Gaben, wie Keiner von Denen zu spenden vermochte, die, in Purpur gekleidet, große und S. 255 furchtbare Kriegsheere hatten. „Das ist die Sprache von Männern, die schon in den Himmel versetzt sind und jene Höhe erstiegen haben. So kann Derjenige, der Nichts hat, Alles besitzen, so Derjenige, der Nichts besitzt, Alles erwerben. Wenn wir aber Alles besitzen, so sind wir von Allem entblößt. Vielleicht scheint auch diese Rede räthselhaft, und dennoch ist sie es nicht. Aber wie, heißt es, kann denn, wer Nichts hat, Alles besitzen? Besitzt nicht vielmehr Derjenige Alles, der Alles hat? Nein, ganz das Gegentheil. Denn wer Nichts hat, der befiehlt Allen, wie es Jene (die Apostel) gemacht; denn ihnen standen in der Welt alle Häuser offen, und die sie aufnahmen, dankten ihnen noch, und sie kamen wie zu Freunden und Verwandten. Sie kamen zur Purpurhändlerin, und sie setzte ihnen wie eine Magd vor, was sie hatte. Sie kamen zum Kerkermeister, und dieser öffnete ihnen sein ganzes Haus. Sie kamen zu zahllosen Andern. So hatten sie Nichts und besaßen doch Alles. Denn Nichts von Dem, was sie besaßen, nannten sie Eigenthum, und darum war Alles ihr Eigenthum. Denn wer die Güter für gemeinschaftlich ansieht, der gebraucht nicht nur das Seinige, sondern auch das Fremde wie sein Eigenes; wer aber eine Trennung vornimmt und sich nur zum Herrn des Seinigen macht, ist nicht einmal Herr über dasselbe. Das erhellt aus folgendem Beispiel. Wer gar Nichts besitzt, weder Haus noch Tisch noch überflüssige Kleider, sondern sich um Gottes willen von Allem entäussert hat, der bedient sich des Fremden, als wenn es sein Eigenthum wäre, und empfängt von Allen, was er nur will; und so besitzt Derjenige Alles, der Nichts hat. Wer aber Etwas besitzt, ist selbst darüber nicht Herr; denn Niemand gibt Demjenigen, der da hat, und seine Habe gehört eher den Räubern und Dieben, den Verleumdern und dem wechselnden Glücke, ja eher allen Andern als ihm. Paulus durchwanderte die ganze Welt, ohne Etwas bei sich zu haben, ohne bei Freunden und Bekannten einzukehren; denn Anfangs erschien er ja Allen als Feind; — jedoch, als er einmal Eingang gefunden, stand ihm Alles zu Gebote. S. 256 Ananias und Sapphira hingegen, die sich bemühten, von ihrem Eigenthum etwas Weniges zurückzubehalten, verloren Alles und sogar auch das Leben. Entsage also dem eigenen Gute, wenn du willst, daß dir fremdes wie dein eigenes diene!
Jedoch ich weiß nicht, wie ich dazu gekommen bin, eine so hohe Vollkommenheit von Menschen zu fordern, die schon viel zu thun wähnen, wenn sie von ihrem Vermögen auch nur ein Bischen als Almosen geben. Darum sollen diese meine Worte den Vollkommenen gelten; den minder Vollkommenen aber sage ich: Theilet den Armen von euren Gütern mit, ihr vermehret dadurch euren Reichthum: „denn wer den Armen gibt, der leihet Gott auf Zinsen.“1 Wenn du aber ungeduldig bist und die Zeit der Wiedervergeltung nicht abwarten kannst, so erinnere dich an Diejenigen, welche Gelder auf Zinsen ausleihen. Denn auch diese fordern ja nicht sogleich die Zinsen ein, sondern lassen das Kapital gerne lange Zeit stehen in den Händen Dessen, der es gegen Verzinsung erhalten, wenn nur die Rückerstattung gesichert und der Empfänger ein Ehrenmann ist. Das soll nun auch hier so geschehen: Lasse das Deine bei Gott anliegen, damit er dich dann vielfach belohne. Verlange nicht das Ganze hienieden; denn wenn du schon hier Alles empfängst, wie kannst du es dort empfangen? Auch darum bewahrt es Gott dort oben, weil das gegenwärtige Leben so hinfällig ist. Doch vergilt er auch hier schon; denn er sagt: „Suchet das Reich Gottes, und Dieß alles wird euch zugegeben werden.“2 Auf dieses (Reich) wollen wir hinschauen und nicht dringen auf die Wiedervergeltung von Allem, sondern die Zeit abwarten, damit uns der Lohn nicht geschmälert werde. Denn das sind nicht gewöhnliche Zinsen, sondern solche, wie sie schicklicher Weise von Golt bezahlt werden. Diese wollen wir also, ehe wir von dannen scheiden, in S. 257 großer Menge anhäufen, damit wir der gegenwärtigen und zukünftigen Güter theilhaftig werden durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, dem zugleich mit dem Vater und dem hl. Geiste sei Ruhm, Herrschaft und Ehre jetzt und allezeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
