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Allein, wie es scheint, vermag die Menschenfurcht bei uns mehr als die Furcht vor der Hölle und den zukünftigen Strafen. Deswegen sind denn auch alle Begriffe verkehrt: die bürgerlichen Geschäfte werden mit größter Sorgfalt Tag für Tag vollzogen, da darf nichts fehlen; um die geistlichen aber kümmert sich keiner im geringsten. Jene, die unter Anwendung S. 143 von Gewalt und Folter, wie von widerspenstigen Sklaven, erzwungen werden, verrichtet man mit aller Umsicht; diese, die freiwillig und wie von Freigeborenen getan werden sollen, unterläßt man hingegen. Diese meine Worte sind nicht gegen alle gerichtet, sondern gegen diejenigen, welche die in Rede stehenden Abgaben zu entrichten unterlassen. Hätte denn Gott nicht mit Gewalt dies erzwingen können? Aber das will er nicht; er verfährt nämlich schonender mit euch als mit den auf euren Unterhalt Angewiesenen. Er will deswegen nicht, daß ihr dies erzwungen leistet, weil ihr davon kein Verdienst hättet. Und trotzdem stehen viele Christen unserer Tage tief unter den Juden. Bedenke. was die Juden alles geben mußten: den Zehnten, die Erstlinge, wiederum den Zehnten, weiters einen andern Zehnten, weiters den dreifachen Zehnten und den Seckel; und kein Mensch warf den Priestern vor, daß sie zu viel verzehrten. Je größer die Gabe, desto größer der Lohn. Sie sagten nicht: die Priester nehmen in Hülle und Fülle, sie frönen dem Bauche, — Äußerungen, wie ich sie jetzt von mancher Seite hören muß. Leute, die da Häuser bauen und Grundstücke zusammenkaufen, halten sich für völlig mittellos; wenn aber ein Priester einen ordentlichen Rock anhat und sein gehöriges Auskommen findet oder sich einen Diener hält, um nicht selbst die niedrigsten Arbeiten verrichten zu müssen, so ist das in ihren Augen Reichtum. In der Tat sind wir auch darin reich, und sie gestehen das wider ihren Willen ein. Wir sind nämlich reich, selbst wenn wir nur wenig besitzen; sie aber sind arm, mögen sie auch alles zusammenscharren. — Wie lange noch wollen wir so unverständig bleiben? Genügt es uns nicht der Strafe dafür, daß wir nichts tun, sondern müssen wir dieselbe durch Schmähungen und Verleumdungen noch vermehren? Denn wenn du selbst dem Priester gegeben hast, was er besitzt, so büßest du dadurch, daß du ihm dein eigenes Geschenk vorhältst, jegliches Verdienst ein. Wie kannst du es ihm überhaupt vorhalten, wenn du es ihm gegeben hast? Zuerst also bezeugst du seine Armut, indem du behauptest, du selbst habest ihm gegeben, was er hat; warum machst du ihm nun daraus einen Vorwurf? Du S. 144 hättest nichts hergeben sollen, wenn du im Sinne hattest, es vorzuhalten. — Oder du führst eine solche Sprache, während ein anderer gab? Dann ist die Sache noch schlimmer, weil du, ohne etwas zu geben, die Wohltat eines andern vorhältst. Welch reichen Lohn, glaubst du wohl, werden diejenigen empfangen, welche derartige Vorwürfe hören müssen? Denn sie leiden das um Gottes willen. — Inwiefern und warum? — Es stand ihnen ja frei, wenn sie nur wollten, die Lebensweise eines Krämers zu ergreifen, wenn sie auch nicht von seiten ihrer Vorfahren darauf hingewiesen waren! Selbst derartige freche Äußerungen bekomme ich von vielen zu hören, wenn wir sagen; dieser oder jener Priester sei arm. Wenn er gewollt hätte, heißt es, so hätte er reich werden können. Und dann sagt man höhnisch: Sein Vorfahr, sein Großvater usw. war der und der; und nun trägt er ein solches Kleid! — Aber wie, sag' an, sollte er nackt herumlaufen? Du nimmst es also damit sehr genau; doch sieh zu, daß du solche Reden dir nicht selbst zum Schaden redest! Höre vielmehr die eindringliche Warnung Christi, der da spricht: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet1 !“ — Aber es stand ihm frei, wenn er nur gewollt hätte, die Lebensweise eines Krämers oder Kaufmanns zu führen, und dann hätte es ihm an nichts gefehlt; aber er konnte sich nicht dazu verstehen. — Nun, entgegnet er, was hat er von seinem jetzigen Stande? Welche Vorteile bringt er ihm, sag' an? Kleidet er sich in Seide? Stolziert er mit einem Schwarm von Dienern auf der Straße umher? Sitzt er hoch zu Roß? Baut er Häuser, obwohl er eine Unterkunft hat? Wenn er das tut, so trete auch ich schonungslos als Ankläger auf und erkläre ihn geradezu des Priestertums für unwürdig. Denn wie wird er imstande sein, dem Trachten anderer nach den überflüssigen Dingen dieser Welt Einhalt zu gebieten, wenn er sich selbst nicht Einhalt zu gebieten vermag? Wenn aber sein Unrecht nur darin besteht, daß er sein gehöriges Auskommen findet, so frage ich: Sollte er vielleicht von Türe zu Türe gehen und um Almosen betteln? Sage mir, müsstest S. 145 du dich als sein Schüler nicht schämen? Nicht wahr, wenn dein leiblicher Vater es täte, so sähest du darin eine Schande für dich; wenn aber dein geistlicher Vater dazu gezwungen wäre, so wolltest du nicht vor Scham dein Haupt verhüllen und würdest nicht meinen, in den Boden versinken zu müssen? „Das Vaters Unehre“, sagt die Schrift, „bringt den Kindern Schande2.“ — Oder wie? Soll er vielleicht verhungern? Aber auch das liegt einem Gottesfürchtigen ferne; denn das ist nicht Wille Gottes. — Aber mit welchen Sophistereien kommen sie sofort? Es steht geschrieben, sagen sie: „Ihr sollt weder Gold besitzen noch Silber noch zwei Röcke noch Kupfer in euren Gürteln noch einen Stab3“; diese aber haben drei und vier Anzüge und schön überzogene Betten. — Ach, da fühle ich mich gedrängt, tief aufzuseufzen; ja, wenn es nicht gegen den Anstand verstieße, so könnte ich bitterlich weinen. Warum denn? Weil wir die Splitter der andern mit so peinlicher Genauigkeit prüfen, der Balken aber in unsern eigenen Augen gar nicht gewahr werden4. Sage mir doch, warum hältst du denn dieses nicht dir selber vor? — Weil es nur den Lehrern befohlen ist, lautet die Antwort. —Wenn also Paulus sagt: „Haben wir Nahrung und Bedeckung, so wollen wir damit zufrieden sein5“, wendet er sich damit bloß an die Lehrer? Keineswegs, sondern an alle Menschen. Dies ergibt sich deutlich aus dem Vorausgehenden. Denn was sagt er? „Ein großer Gewinn ist die Frömmigkeit mit Genügsamkeit6“; denn „wir haben nichts in diese Welt hereingebracht; ohne Zweifel können wir auch nichts mit hinausnehmen7“. Unmittelbar darauf fährt er dann fort: „Haben wir aber Nahrung und Bedeckung, so wollen wir damit zufrieden sein. Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke und viele törichte8 und schädliche Begierden9.