4.
Darum lastet eine schwere Verpflichtung auf uns, und keiner trauert, keiner weint, keiner seufzt, obschon wir alle zu dem früheren Zustand zurückgekehrt sind. Denn gleichwie wir vor der Ankunft Christi Gott entflohen, so auch jetzt. Man kann nämlich Gott entfliehen, freilich nicht dem Orte nach, denn er ist überall; höre, S. 176 was der Prophet sagt: „Wo soll ich hingehen vor deinem Geiste, und wohin fliehen vor deinem Angesichte1?“ Wie ist es also möglich, Gott zu entfliehen? Wie es möglich ist, weit von Gott weg zu sein; wie es möglich ist, sich von ihm zu entfernen. Denn es heißt: „Die sich von dir entfernen, werden zugrunde gehen2“; und wiederum: „Bilden nicht eure Sünden eine Scheidewand zwischen mir und euch3?“ — Wie findet also die Entfernung von Gott, wie die Trennung von ihm statt? Dem freien Willen und der Seele nach; denn dem Orte nach ist es nicht möglich. Wie könnte auch jemand dem Allgegenwärtigen entfliehen? Der Sünder also entflieht ihm. Das ist es, was die Schrift mit den Worten ausdrückt: „Es flieht der Gottlose, wenn ihn auch niemand verfolgt4.“ Wir entfliehen Gott mit aller Gewalt, wiewohl er uns immerfort aufsucht. Der Apostel strebte darnach, ihm immer näher zu kommen; wir streben darnach, uns von ihm zu entfernen. Soll man das nicht beklagen? Soll man das nicht beweinen? Warum fliehst du, du Armer und Unglückseliger? Warum fliehst du dein Leben und dein Heil? Wenn du vor Gott fliehst, bei wem willst du Zuflucht finden? Wenn du vor dem Lichte fliehst, wohin willst du deinen Blick richten? Wenn du vor dem Leben fliehst, woher willst du fortan leben? Vor dem Feinde unseres Heils laßt uns fliehen! — Wenn wir sündigen, so fliehen wir von Gott weg, entlaufen wir (aus seinem Dienste), ziehen wir fort in die Fremde gleich dem verlorenen Sohne5, der sein väterliches Erbteil verpraßte und in ein fernes Land zog, der sein ganzes väterliches Vermögen vergeudete und am Hungertuche nagen mußte. Auch wir nun haben ein väterliches Vermögen. Was ist das für eines? Gott befreite uns von der Sünde, verlieh uns Fähigkeit und Kraft zur Übung der Tugend, verlieh uns Mut und Beharrlichkeit, verlieh uns in der Taufe den Heiligen Geist. Wenn wir diese Schätze vergeuden, so werden wir in der Folge Hunger leiden müssen. Denn S. 177 gleichwie die Kranken, solange sie von Fiebern und bösen Säften belästigt werden, nicht aufstehen, noch arbeiten, noch etwas tun können; wenn sie aber, nachdem man sie davon befreit und ihnen zur Gesundheit verholfen hat, dann nicht arbeiten, dieses von ihrer eigenen Trägheit herrührt: gerade so verhält es sich auch mit uns. Denn eine gefährliche Krankheit und ein hartnäckiges Fieber (setzte uns zu); und wir lagen nicht im Bette, sondern mitten in der Bosheit, wie auf einem Misthaufen, durch die Sünde darniedergeworfen, mit Geschwüren bedeckt, voll üblen Geruches, heruntergekommen, abgezehrt, mehr Schatten gleichend als Menschen. Es umstanden uns böse Geister, der Fürst dieser Welt, der uns verlachte, verhöhnte. Da kam der eingeborene Sohn Gottes, ließ die Strahlen seiner Ankunft leuchten und verscheuchte im Nu die Finsternis. Der Himmelskönig, der auf dem Throne des Vaters sitzt, verließ den väterlichen Thron und kam zu uns. Wenn ich aber sage: er verließ, so darfst du wiederum nicht an ein räumliches Sichentfernen denken; denn er erfüllt ja den Himmel und die Erde; sondern ich rede im Sinne der Heilsökonomie. Er kam zu seinem Feinde, der ihn haßte, der ihn verabscheute, der nicht einmal seinen Anblick ertragen konnte, der ihn Tag für Tag lästerte. Er sah ihn auf einem Misthaufen liegen, mit von Würmern wimmelnden Geschwüren bedeckt, von Fieberglut und Hunger gepeinigt, mit Krankheiten aller Art behaftet. Denn es quälte ihn das Fieber — nämlich die böse Begierlichkeit; es bedrängte ihn Entzündung und Geschwulst — nämlich der Hochmut; es folterte ihn der sogenannte Heißhunger — nämlich der Geiz; allenthalben Fäulnis — nämlich die Unzucht; und Blindheit der Augen — nämlich Abgötterei; und Taubheit und Lähmung — nämlich die Anbetung von Stein und Holz; und entstellende Häßlichkeit — nämlich die Lasterhaftigkeit, dieses widerlichste Übel, diese gefährlichste Krankheit. Er hörte uns ferner eine ärgere Sprache führen als die Wahnsinnigen, und das Holz und ebenso den Stein Gott nennen. Er sah uns in so große Schlechtigkeit versunken und zeigte keinen Ekel, keinen Widerwillen, keinen Abscheu, keinen Haß; denn er war der Herr, und sein eigenes Gebilde S. 178 konnte er nicht hassen. Sondern was tut er? Gleich dem trefflichsten Arzte bereitet er wertvolle Salben und kostet sie selbst zuerst. Er strebte selbst zuerst der Tugend nach, und so gab er sie uns. Zuerst gab er uns gleichsam als Gegengift ein Heilmittel, die Taufe, und so gaben wir allen Krankheitsstoff von uns6, und alle Übel wurden zumal verbannt: die entzündliche Geschwulst legte sich, die Fieberglut wurde gelöscht, die Fäulnis ausgebrannt. Denn alle durch den Geiz, den Stolz und die übrigen Leidenschaften verursachten Schäden wurden hinweggetilgt durch den Heiligen Geist. Es öffneten sich die Augen, die Ohren taten sich auf, die Zunge redete fromm, die Seele schöpfte neue Kraft, der Leib erhielt eine Schönheit und einen Liebreiz, wie es sich von einem durch die Gnade des Heiligen Geistes wiedergeborenen Gotteskinde nur erwarten läßt, ein Ansehen, wie es dem neugeborenen Königssohn zukommt, der für den Purpur erzogen werden soll. — Ach, welch hohen Adel hat er uns verliehen! Wir wurden neugeboren, wir wurden erzogen; warum wollen wir unserem Wohltäter wieder entfliehen? Er, der dieses alles getan hat, gibt uns ferner auch die Kraft; denn unmöglich hätte die krankheitbefallene Seele dies ertragen können, wenn nicht er uns die nötige Kraft gegeben hätte; und den Nachlaß der Sünden. Wir verpraßten alles; er gab uns Kraft, — wir verschleuderten sie; er gab uns die Gnade, — wir ließen sie erlöschen. Wieso? Wir verwendeten sie nicht in der gehörigen Weise, machten davon nicht den rechten Gebrauch. Dies hat uns zugrunde gerichtet, und was das Allerschlimmste ist: wir leben in der Fremde und nähren uns von Trebern, aber trotzdem sprechen wir nicht: Wir wollen umkehren zum Vater und sagen: Wir haben gesündigt gegen den Himmel und gegen dich7; und wir haben doch einen so zärtlichen Vater, der sich innig nach unserer Rückkehr sehnt! Wofern wir nur zurückkehren, so bringt er es nicht über sich, uns wegen des Vergangenen auch nur Vorwürfe zu machen. Nur stehen wir (von unserem früheren Wandel) S. 179 ab; denn die bloße Rückkehr schon reicht hin, uns zu rechtfertigen. Doch was sage ich, er selbst macht uns keine Vorwürfe? Sogar wenn ein anderer gegen uns Vorwürfe erheben sollte, gebietet er ihm Schweigen, mag der Tadler auch noch so wohlgefällig in seinen Augen sein. —
Kehren wir zurück! Wie lange noch wollen wir von Gott getrennt bleiben? Fühlen wir unsere Ehrlosigkeit, fühlen wir unsere Erniedrigung! Das Laster macht uns zu Schweinen, das Laster bringt unsere Seele dem Verhungern nahe. Raffen wir uns wieder auf, werden wir wieder nüchtern, kehren wir zu dem früheren Adel zurück, auf daß wir der zukünftigen Güter teilhaftig werden; durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater gleichwie dem Heiligen Geiste Herrlichkeit, Macht und Ehre sei, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.