47. Chronius und Paphnutius.
Chronius war aus dem Dorfe Phoinike. Von diesem aus ging er fünfzehntausend Schritte weit - er zählte sie mit dem rechten Fuß - in die nahe Wüste, betete dort und grub einen Brunnen. Er baute sich, weil er prächtiges Wasser fand, sieben Klafter davon entfernt, eine kleine Hütte. Von dem Tage, seit er sie bezog, bat er Gott unablässig, nie mehr in bewohnte Gegend wandern zu müssen. Innerhalb weniger Jahre sammelte sich um ihn eine Schar von etwa zweihundert Brüdern; ihn selbst erhob man in den Priesterstand. Von seiner Tugendstrenge rühmt man besonders, daß er sechzig Jahre lang am Opferaltare des priesterlichen Amtes waltend niemals die Wüste verließ und niemals einen Bissen Brot aß, den er nicht eigenhändig verdiente.
S. 413 Nicht weit von ihm hauste Jakobus, der Lahme genannt, ein überaus gelehrter Mann. Beide waren mit dem seligen Antonius bekannt. Eines Tages besuchte sie Paphnutius, zubenannt Kephalas, der die Gnadengabe tiefen Verständnisses für Altes und Neues Testament besaß und die ganze Schrift zu deuten wußte, obgleich er nicht lesen konnte. So bescheiden war dieser Mann, daß er seine prophetische Kraft verborgen hielt. Man erzählt von ihm, er habe nie während achtzig Jahren zu gleicher Zeit zwei Leibröcke besessen. Mit den genannten Männern trafen ich und die seligen Euagrius und Albinus zusammen. Wir fragten sie, wie es doch komme, daß manche Brüder irregingen oder gänzlich vom rechten Wege wichen oder das Opfer einer Täuschung und ihrem Beruf untreu wurden. Es begab sich nämlich in jenen Tagen, daß der Asket Chäremon sitzend starb, so daß man ihn auf seinem Stuhle fand, wie er noch sein Werkzeug in Händen hielt. Auch traf es sich, daß ein anderer Bruder beim Brunnengraben verschüttet ward; ein dritter, der aus der Sketis herabstieg, mußte verschmachten, weil er kein Wasser fand. Stephanus ergab sich der Ausschweifung; auch ereigneten sich damals die Fälle mit Eukarpius, Heron aus Alexandrien, Valens dem Palästinenser und dem Ägyptier Ptolemäus in der Sketis. Wir stellten also mit einander die Frage, welches wohl die Ursache sei, daß Männer von so trefflichem Wandel in der Wüste solchem Wahne verfallen und zuchtlos werden konnten.
Der überaus verständige Paphnutius gab uns folgenden Bescheid: "Alle Geschehnisse kann man in zwei Gruppen teilen: in solche nach Gottes Wohlgefallen und in solche nach Gottes Zulassung. Was nur immer Edles zu Gottes Ehre vollbracht wird, das geschieht nach Gottes Wohlgefallen; was jedoch Schädliches und Gefährliches, was durch Unglück und Zufall sich ereignet, das geschieht durch Gottes Zulassung; aber auch die Zulassung erfolgt nicht ohne Grund. Denn wer richtig denkt und richtig lebt, kann unmöglich in schändliche Laster sinken oder vom Teufel betrogen werden. Die dagegen in schlechter Absicht, um anderen oder sich selbst zu gefallen, den Schein erwecken, als strebten sie S. 414 nach Vollkommenheit, diese geraten in die Fallstricke des Teufels, weil Gott ihnen den nötigen Beistand versagt, damit sie zu ihrem Besten den Unterschied fühlen und infolgedessen ihren Sinn und Wandel zum Guten bekehren. Zuweilen fehlt es am Vorsatz, wenn etwas in schlechter Absicht getan wird, zuweilen an der Ausführung, wenn etwas in sündhafter Weise oder wenigstens nicht in der rechten vollbracht wird. So kommt es häufig vor, daß ein unzüchtiger Mensch in verdorbener Absicht jungen Personen Almosen reicht um eines schändlichen Zweckes willen; und doch ist es ein edles Werk, einem Waisenkind oder einer weiblichen Person, die ein frommes Leben führt, Unterstützung angedeihen zu lassen. Man kann aber auch Kranken, alten und armen Leuten das Almosen sogar in guter Absicht spenden, aber mit Geiz und Murren, so daß wohl die Absicht gut, aber die Ausführung deren unwürdig ist; denn Almosen soll man geben in Heiterkeit1 und ohne Geiz."
Und folgendes sagte Chronius: "Viele Seelen besitzen irgend eine Fähigkeit in besonderem Maße; die einen zeichnen sich aus durch Schärfe des Geistes, andere durch die Neigung zum asketischen Leben. Ist aber Denken und Tun eines solchen nicht von edler Art, so schreibt er die edlen Anlagen nicht Gott, dem Geber alles Guten, zu, vielmehr dem eigenen Willen, der eigenen Einsicht und Kraft. Darum überläßt sie Gott sich selber und sie fallen in schändliche Leidenschaften und Laster; niedergebeugt und beschämt legen sie dann allmählich den Stolz auf die vermeintliche Tugend ab. Der Hochmütige schreibt nämlich Fähigkeit und Erkenntnis nicht Gott zu, sondern seiner eigenen Übung und natürlichen Anlage, darum nimmt Gott den schützenden Engel hinweg von ihm und der stolze Mensch fällt sodann in Gewalt des Widersachers und wird zuchtlos infolge seiner Überhebung; nachdem er die weise Mäßigung verloren hat, schenkt man seiner Rede keinen Glauben mehr und alle Gewissenhaften hüten sich, seiner Lehre zu folgen, wie man aus einer Quelle nicht trinken mag, wenn Blutegel darin sind. So geht in Erfüllung, was S. 415 geschrieben steht: "Zum Sünder sagte Gott: Was erzählst du meine Gerichte und nimmst meinen Bund auf deine Lippen?"2 In der Tat gleichen die Seelen solcher Menschen, die von Leidenschaften erfüllt sind, verschiedenartigen Quellen: die der Gaumenlust frönen und mit Vorliebe Wein trinken, den schmutzigen; die Habsüchtigen und Geizigen solchen, worin Frösche sich aufhalten; die Verleumder und Hochmütigen, die noch dazu die nötige Weisheit haben, sind wie Quellen, worin Schlangen ihre Nahrung finden, und ob ihres bitteren Wesens wie Sümpfe, woraus Wasser zu schöpfen niemand Lust empfindet. Darum flehte David um drei Dinge: "Güte, Zucht und Einsicht";3 denn Einsicht ohne Güte hat keinen Wert; wenn aber ein solcher Mensch das Hindernis seines Fortschrittes, den Stolz, aus dem Wege räumt, demütig wird, zur Selbsterkenntnis gelangt, sich über niemand erhebt und dankbar wird gegen Gott, so nimmt die Weisheit wieder Einkehr in seiner Seele und gibt sich kund nach außen. Wenn jemand, der weder fromm noch enthaltsam lebt, geistliche Gespräche führt, so gleichen diese den tauben Ähren, die zwar vom Winde bewegt den Schein erwecken, als seien sie volle, trotzdem aber wertlos sind. Jede Sünde, mag sie geschehen in Wort oder Tat, mit den einzelnen Sinnen oder dem ganzen Leibe jede Sünde läßt Gott in einer genau dem Hochmut angemessenen Weise zu; doch sogar, wenn er den Menschen verläßt, erweist er ihm noch Barmherzigkeit; denn trotz ihrer Zuchtlosigkeit stellt Gott ihren Geistesvorzügen ein Zeugnis aus, indem er ihnen Beredsamkeit gibt, obgleich er sie mit ihrem Stolze zu Teufeln macht, die sich brüsten in ihrem Schmutze."
Auch folgendes sagten uns jene heiligen Männer: "Wenn du einen Menschen von schlechtem Wandel erbaulich reden hörst, so denk' an den Teufel, der Christo gegenüber die Heilige Schrift im Munde führte, und an die Stelle: "Die Schlange jedoch war das klügste von allen Tieren der Erde".4 Einem solchen S. 416 gereicht die Klugheit zum Verderben, weil ihr keine andere Tugend zur Seite steht. Denn wer gläubig und edel gesinnt ist, muß denken, was Gott ihm ein gibt, und reden, was er denkt, und tun, was er redet. Steht aber sein Wandel in Widerspruch mit der Wahrheit seiner Reden, dann sind diese nach dem Ausdrucke Jobs nur Brot ohne Salz, das niemand ißt und das, wenn es dennoch genossen wird, Unwohlsein bereitet. "Wird man Brot essen ohne Salz?" sagt er, "und wird man Geschmack finden an leeren Worten?"5 d. h. wenn sie nicht gute Werke zu Zeugen haben. Es gibt mancherlei Gründe, weshalb Gott den Menschen verläßt; einer davon ist der: die verborgene Tugend soll offenbar werden, wie bei Job, dem Gott den Bescheid gab: "Verwirf mein Urteil nicht und glaube nicht, ich habe mit dir einen anderen Plan als deine Gerechtigkeit kundzumachen",6 Denn ich schaue, was verborgen ist, und kannte dich, ehe die Menschen dich kannten; und weil sie meinten, du dienest mir des Reichtumes wegen, darum hab' ich Drangsal über dich gebracht und den Reichtum von dir genommen, um deutlich zu zeigen, daß du mir auch dann noch Dank sagen und dir die Weisheit bewahren werdest. Ein anderer Grund ist: den Menschen von jedem Hochmut fernzuhalten, wie bei Paulus geschah, der von Unglück heimgesucht, mit Fäusten geschlagen und von mancherlei Drangsal gequält wurde, weshalb er selber sagte: "Gegeben ward mir ein Stachel in das Fleisch, ein Satansengel, daß er mir Faustschläge versetze, damit ich mich nicht überhebe",7 damit er nicht infolge der Wundertaten, Ehren und Erfolge nachlässig und ein Opfer teuflischen Hochmutes werde. Der Gichtbrüchige wurde gleichfalls ob seiner Sünden (von Gott) verlassen, wie Jesus sagt: "Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr!"8 Auch Judas, der das Geld der Lehre vorzog, wurde verlassen und erhängte sich deshalb. Auch Esau wurde verlassen und fiel in Zuchtlosigkeit, S. 417 nachdem er den Kot der Eingeweide höher geschätzt als den väterlichen Segen. Dies alles faßt Paulus zusammen, indem er sagt: "Weil sie nämlich die Gotteserkenntnis verwarfen, überließ sie Gott ihrem verwerflichen Sinne, so daß sie das Ungeziemende taten".9 Von anderen aber, die verderbten Sinnes waren und dennoch Gotteserkenntnis zu haben schienen, sagt er: "Weil sie nämlich Gott, den sie kannten, nicht als Gott verherrlichten oder ihm dankten, gab sie Gott den schändlichen Lüsten preis".10 Daraus erkennen wir, daß niemand in Zuchtlosigkeit fallen kann, der nicht von Gottes Vorsehung verlassen wird."