59. Amatalis und Taor.
In der genannten Stadt Antinoe befinden sich zwölf Frauenklöster; in einem davon traf ich die hochbetagte Amatalis, die schon achtzig Jahre lang ein asketisches Leben führt, wie sie selber und auch ihre Nachbarinnen erzählten. Mit ihr zusammen lebten sechzig Jungfrauen; diese liebten sie so sehr, daß es gar nicht nötig war, ein Schloß am Eingange zu befestigen, wie das in den anderen Klöstern Brauch ist, sondern alle folgten ihr aus Liebe. So frei von aller Leidenschaft war diese Greisin geworden, daß sie sich, als ich zu Besuche kam, neben mich setzte und mir ohne jedes Bedenken die Hand auf die Schultern legte.
In jenem Kloster war schon dreißig Jahre lang eine Jungfrau, namens Taor, eine Schülerin der Amatalis. Diese wollte niemals Gewand oder Mantel oder Schuhe annehmen, solange sie neu waren: "Ich habe das nicht nötig; denn ich will nicht gezwungen werden, auszugehen." Es gehen nämlich die anderen am Tag des Herrn zur Kirche, um an den Geheimnissen teilzunehmen. Sie dagegen blieb, in Lumpen gehüllt, im Kloster und saß unermüdlich an der Arbeit. Sie war von auffallender Schönheit, so daß auch für willensstarke Männer Gefahr bestanden hätte, davon berückt zu werden; doch war sie so schamhaft und schüchtern, daß ihr S. 427 Anblick sogar bei jenen, die mit frechen Augen nach ihr sahen, nur sittsame Gedanken wachrief.