VI. KAPITEL. Die ganze göttliche Natur ist in einer ihrer Hypostasen mit der ganzen menschlichen Natur geeint, und nicht Teil mit Teil.
Das Gemeinsame und Allgemeine wird von dem unter ihm begriffenen Partikularen ausgesagt. Gemeinsam nun ist die Wesenheit als Form, partikular aber die Hypostase (Person). Partikular, nicht als ob sie einen Teil von der Natur hätte, sie hat keinen Teil, sondern partikular der Zahl nach als Individuum. Denn der Zahl und nicht der Natur nach unterscheiden sich, wie man sagt, die Hypostasen. Es wird aber die Wesenheit von der Hypostase ausgesagt, weil in jeder der gleichartigen Hypostasen die vollkommene Wesenheit ist. Darum unterscheiden sich auch die Hypostasen nicht der Wesenheit nach voneinander, sondern nach dem, was hinzukommt, d. i. nach den charakteristischen Eigentümlichkeiten: charakteristisch aber für die Hypostase (Person), nicht für die Natur. Man definiert ja auch die Hypostase als Wesenheit samt den hinzukommenden S. 126 Merkmalen (Akzidenzien) 1. Daher besitzt die Hypostase das Gemeinsame nebst dem Eigentümlichen und das Fürsichbestehen. Die Wesenheit aber besteht nicht für sich selbst, sondern wird in den Hypostasen betrachtet. Darum sagt man: Leidet eine der Hypostasen, so leidet die ganze leidensfähige Wesenheit, nach der die Hypostase leidet, in einer ihrer Hypostasen. Es ist jedoch nicht notwendig, daß auch alle gleichartigen Hypostasen zugleich mit der leidenden Hypostase leiden.
So bekennen wir denn, daß die Natur der Gottheit ganz auf vollkommene Weise in jeder ihrer Hypostasen ist, ganz im Vater, ganz im Sohne, ganz im Hl. Geiste. Darum ist auch der Vater vollkommener Gott, der Sohn vollkommener Gott, der Hl. Geist vollkommener Gott. So hat sich auch, sagen wir, bei der Menschwerdung des einen der heiligen Dreiheit, des Gott-Logos, die ganze und vollkommene Natur der Gottheit in einer ihrer Hypostasen mit der ganzen menschlichen Natur geeint, und nicht Teil mit Teil. Es sagt ja der göttliche Apostel: „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig 2“, d. i. in seinem Fleische. Und dessen Schüler, der Gottesträger und Gottesgelehrte Dionysius 3, [sagt], „sie habe sich uns ganz und gar in einer ihrer Hypostasen mitgeteilt“. Wir werden darum nicht zu sagen brauchen, alle, d. h. die drei Hypostasen der heiligen Gottheit, seien mit allen Hypostasen der Menschheit hypostatisch geeint; denn nach keiner Hinsicht hat der Vater und der Hl. Geist an der Fleischwerdung des Gott-Logos teil, S. 127 außer dem Wohlgefallen und Willen nach. Wir sagen jedoch, mit der ganzen menschlichen Natur sei die ganze Wesenheit der Gottheit geeint. Denn nichts von dem, was der Gott-Logos unserer Natur anerschaffen, da er uns am Anfang gebildet, hat er weggelassen, sondern alles hat er angenommen, einen Leib, eine vernünftige und denkende Seele und deren Eigentümlichkeiten. Denn das Lebewesen, das eines hievon nicht hat, ist kein Mensch. Ja, ganz hat er mich ganz angenommen und ganz hat er sich mit dem Ganzen geeint, um dem Ganzen das Heil zu spenden. Denn was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden.
Geeint also ist das Wort Gottes mit dem Fleische mittels des Geistes (νοῦς) [nous], der zwischen der Reinheit Gottes und der Grobheit (Materialität) des Fleisches vermittelt. Denn der Geist herrscht über Seele und Fleisch — der Geist ist ja das Reinste der Seele —, Gott aber über den Geist. Und sobald die Zulassung vom Höheren kommt, zeigt der Geist Christi seine Herrschaft. Er steht jedoch unter dem Höheren und folgt ihm und wirkt das, was der göttliche Wille fordert.
Der Geist ist Wohnstätte der mit ihm hypostatisch geeinten Gottheit, ebenso natürlich auch das Fleisch, nicht Mitbewohner, wie die gottlose Meinung der Häretiker irrig behauptet, da sie sagt: Ein Scheffel wird doch nicht zwei Scheffel fassen. Sie beurteilt eben das Immaterielle nach Art der Körper. Wie soll man aber Christus vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen und wesensgleich mit dem Vater und mit uns nennen, wenn in ihm ein Teil der göttlichen Natur mit einem Teile der menschlichen Natur geeint ist?
Wir sagen, unsere Natur ist von den Toten auferstanden und aufgefahren und sitzt zur Rechten des Vaters, nicht sofern alle Hypostasen der Menschen auferstanden sind und zur Rechten des Vaters sitzen, sondern sofern dies unserer ganzen Natur in der Person (Hypostase) Christi zuteil geworden. Darum sagt der göttliche Apostel: „Er (Gott) hat uns in Christus mitauferweckt und mitversetzt [in die Himmelswelt] 4.“
S. 128 Auch das sagen wir, daß sich aus gemeinsamen Wesenheiten die Einigung vollzog. Jede Wesenheit ist nämlich den unter ihr begriffenen Hypostasen gemeinsam, und man kann keine partikulare und eigentümliche (individuelle) Natur oder Wesenheit finden. Denn sonst müßte man dieselben Hypostasen für wesensgleich und wesensverschieden erklären und die heilige Dreiheit der Gottheit nach sowohl wesensgleich als wesensverschieden nennen. Dieselbe Natur also wird in jeder der Hypostasen betrachtet. Und wenn wir nach dem hl. Athanasius und Cyrillus 5 sagen, die Natur des Wortes sei Fleisch geworden, so meinen wir, die Gottheit habe sich mit dem Fleische geeint. Darum können wir auch nicht sagen: Die Natur des Wortes hat gelitten, denn es hat nicht die Gottheit in ihm gelitten. Wir sagen aber, die menschliche Natur habe in Christus gelitten, ohne jedoch alle Hypostasen (Personen) der Menschen zu meinen. Wir bekennen aber auch, Christus habe in der menschlichen Natur gelitten. Darum bezeichnen wir, wenn wir „Natur des Wortes“ sagen, [damit] das Wort selbst. Das Wort aber besitzt sowohl das Gemeinsame der Wesenheit als das Eigentümliche der Person (Hypostase) .
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Bilz (a. a. O. S. 16) weist darauf hin, daß Johannes hier der Auffassung der Kappadozier folgt, wie sie Basilius (ep. 38, 6 Migne, P. gr. 32, 336 C) im Anschluß an die Neuplatoniker Ammonius († 242 ? n. Chr.) und Porphyrius († ca. 303) zur Geltung gebracht. ↩
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Kol. 2, 9. ↩
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De div. nom. c. 1, 4 (Migne, P. gr. 3, 592 A). Der hier erwähnte Dionysius ist nicht der vom hl. Paulus auf dem Areopag in Athen bekehrte Dionysius (Apg .17, 34), sondern ein Schriftsteller, der Ende des 5. oder Anfang des 6. Jahrhunderts mehrere theologisch-mystische Schriften, wahrscheinlich in Syrien, geschrieben hat und diese fälschlicher Weise von Dionysius, dem Schüler des Weltapostels, verfaßt sein läßt. ↩
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Eph. 2, 6. ↩
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Johannes hat hier die vielerörterte Formel im Auge, die sich im Glaubensbekenntnis De incarnatione Dei, Verbi, (Περὶ τῆς σαρκὠσεως τοῦ θεοῦ λόγου) [peri tēs sarkōseōs tou theou logou] findet, das als ein Werk des hl. Athanasius galt, in Wirklichkeit aber von Apollinaris, dem Bischof von Laodicea, verfaßt und von ihm dem Kaiser Jovian eingereicht worden ist (b0ardenhewer, Patrologie ³, Freib. 1910, S. 213): „Eine fleischgewordene Natur des Gott-Logos“ ═ μία φύσις τοῦ θεοῦ λόγου σεσαρκωμένη [mia physis tou theou logou sesarkōmenē] (Apollin., Ep. ad Jovian. Lietzmann, Apollinaris von Laodicea und seine Schule I, Tübingen 1904, 250, 7). Cyrill von Alexandrien hat diese apollinaristische Formel, die er für athanasianisch gehalten, übernommen: (ad regin. 1, 9 Migne, P. gr. 76, 1212 A; ep. 44 l. c. 77, 224 D ep. 46, 4 l. c. 77, 245 A). ↩