XII. KAPITEL. Die heilige Jungfrau Gottesgebärerin. Gegen die Nestorianer.
Wir predigen die heilige Jungfrau als Gottesgebärerin im eigentlichen und wahren Sinne. Denn wie wahrer Gott der ist, der aus ihr geboren worden, so ist wahre Gottesgebärerin die, die den wahren Gott, der aus ihr Fleisch angenommen, geboren hat. Denn Gott, sagen wir, ist aus ihr geboren worden, nicht als hätte die Gottheit des Wortes den Anfang des Seins aus ihr genommen, sondern weil der Gott-Logos selbst, der „von Ewigkeit her 1“ zeitlos aus dem Vater gezeugt ist und anfangslos und ewig mit dem Vater und dem Geiste S. 141 zugleich existiert, „am Ende der Tage 2“ um unseres Heiles willen in ihrem Schoße Wohnung nahm und, ohne sich zu verwandeln, aus ihr Fleisch annahm und geboren wurde. Denn nicht einen bloßen Menschen gebar die heilige Jungfrau, sondern einen wahrhaftigen Gott, nicht einen nackten, sondern fleischbekleideten, nicht einen, der vom Himmel den Leib herabbrachte und wie durch einen Kanal durch sie hindurchging 3, sondern einen, der aus ihr uns wesensgleiches Fleisch annahm und es in ihm selbst subsistieren machte (hypostasierte). Wäre nämlich der Leib vom Himmel gebracht und nicht von unserer Natur genommen, was hälfe dann die Menschwerdung? Die Menschwerdung des Gott-Logos geschah ja darum, daß die sündige, gefallene und verdorbene Natur selbst den Tyrannen, der sie getäuscht, besiege und so vom Verderben befreit werde, wie der göttliche Apostel sagt: „Denn durch einen Menschen [kommt] der Tod und durch einen Menschen die Auferstehung der Toten 4.“ Ist das erste wahr, dann auch das zweite.
Wenn er aber auch sagt: „Der erste Adam ist von der Erde, irdisch, der zweite Adam ist der Herr vom Himmel 5“, so meint er nicht, sein Leib sei vom Himmel, sondern [meint] offenbar, er sei kein bloßer Mensch. Denn sieh, er nannte ihn sowohl Adam wie Herrn und zeigte damit beides zugleich an. Adam heißt ja Erdgeborener. Erdgeboren aber ist offenbar die Natur des Menschen, sie ist aus Staub gebildet. Herr dagegen bezeichnet die göttliche Wesenheit.
Ferner sagt der Apostel: „Es sandte Gott seinen eingeborenen Sohn, geboren aus einem Weibe 6. Er sagte nicht: durch ein Weib, sondern: aus einem Weibe. Es zeigte also der göttliche Apostel an, daß der eingeborene Sohn Gottes und Gott der ist, der aus der Jungfrau Mensch geworden, er hat nicht in einem zuvor S. 142 gebildeten Menschen wie in einem Propheten Wohnung genommen, sondern er ist wesenhaft und wirklich Mensch geworden, d. h. er hat in seiner Hypostase ein mit einer vernünftigen und denkenden Seele belebtes Fleisch hypostasiert und ist selbst dessen Hypostase geworden. Denn dies bedeutet das „geboren aus einem Weibe“. Wie wäre es denn möglich gewesen, daß das Wort Gottes selbst „dem Gesetze unterstellt 7“ war, wenn es nicht ein uns wesensgleicher Mensch geworden wäre?
Darum nennen wir die heilige Jungfrau mit Recht und in Wahrheit Gottesgebärerin. Stellt doch dieser Name das ganze Geheimnis der Heilsveranstaltung (═ Menschwerdung) dar. Ist nämlich die Gebärerin Gottesgebärerin, so ist sicherlich der aus ihr Geborene Gott, sicherlich aber auch Mensch. Denn wie sollte Gott, der von Ewigkeit her existiert, aus einem Weibe geboren sein, wenn er nicht Mensch geworden wäre? Der Sohn eines Menschen ist doch offenbar ein Mensch. Ist aber der aus einem Weibe Geborene selbst Gott, dann ist offenbar der, welcher der göttlichen und anfangslosen Wesenheit nach aus Gott dem Vater gezeugt ist, und der, der am Ende der Zeiten der anfänglichen und zeitlichen, d. h. der menschlichen Wesenheit nach, aus der Jungfrau geboren ist, ein einziger. Das weist aber auf eine Hypostase, zwei Naturen und zwei Geburten unseres Herrn Jesus Christus hin.
Christusgebärerin aber nennen wir die heilige Jungfrau durchaus nicht. Denn der verruchte, verabscheuungswürdige und jüdisch gesinnte Nestorius, das Gefäß der Schande, hat zur Aufhebung des Ausdruckes Gottesgebärerin und zur Bekämpfung der Gottesgebärerin, die in Wahrheit allein höher als jedes Geschöpf geehrt wird, und mag dieser samt seinem Vater, dem Satan, bersten, diese kränkende Benennung erfunden. Denn ein Christus (═ ein Gesalbter) ist auch der König David und der Hohepriester Aaron — Könige und Priester sind es, die gesalbt werden —, und jeder gotttragende Mensch kann Christus, dagegen nicht von Natur Gott S. 143 genannt werden. So hat auch der gottverfluchte Nestorius sich erfrecht, den aus der Jungfrau Geborenen Gottesträger zu nennen. Fern sei es uns, ihn als Gottesträger zu bezeichnen oder zu denken, sondern als fleischgewordenen Gott. Denn das Wort selbst ist Fleisch geworden, empfangen zwar von der Jungfrau, hervorgegangen aber als Gott unter Annahme [der menschlichen Natur], die auch selbst zugleich mit ihrer Hervorbringung ins Sein von ihm vergottet wurde. Darum erfolgte zu gleicher Zeit dreierlei: ihre Annahme, ihre Existenz und ihre Vergottung durch das Wort. Und so kommt es, daß die heilige Jungfrau als Gottesgebärerin bezeichnet und gedacht wird, nicht bloß wegen der Natur des Wortes, sondern auch wegen der Vergottung des Menschlichen. Deren Empfängnis wie Existenz, nämlich die Empfängnis des Wortes und die Existenz des Fleisches im Worte selbst, ist zu gleicher Zeit auf wunderbare Weise erfolgt. Denn die Gottesgebärerin selbst bot wunderbar den Stoff zur Bildung dem Bildner dar und den Stoff zur Menschwerdung dem Gott und Schöpfer des Alls, der das Angenommene vergottete, während die Einigung das Geeinte so, wie es eben geeint worden, wahrte, nämlich nicht bloß das Göttliche, sondern auch das Menschliche von Christus, das, was über uns ist, und das, was wir sind. Denn nicht etwas, das zuerst wie wir geworden, ist später höher als wir geworden, nein, beides existierte immer vom ersten Dasein an, weil es von Anfang der Empfängnis an die Existenz im Worte selbst hatte. Menschlich also ist es (═ das Angenommene) seiner eigenen Natur nach, Gott aber und göttlich auf übernatürliche Weise. Weiterhin besaß es auch die Eigentümlichkeiten des beseelten Fleisches, denn das Wort nahm sie in Rücksicht auf die Heilsordnung an. Sie sind in der Ordnung natürlicher Bewegung (Tätigkeit) in Wahrheit natürlich.