IX. Kapitel: Der Seelsorger muß wohl wissen, daß die Laster sich meistens für Tugenden ausgeben
Der Seelsorger muß auch wissen, daß die Laster sich meistens für Tugenden ausgeben. So verbirgt sich der Geiz oft unter dem Titel der Sparsamkeit, während die Verschwendung sich unter dem Namen der Freigebigkeit versteckt. Oft hält man ungeordnete Nachsicht für Milde und leidenschaftlichen Zorn sieht man für die Tugend geistlichen Eifers an. Oft hält man ein übereiltes, vorschnelles Handeln für Tatkraft und ein langsames Wesen für Ernst und Überlegung. Darum muß der Seelsorger die Augen offen halten und wohl unterscheiden zwischen Tugend und Laster, damit sein Herz sich nicht schon in den Krallen des Geizes befindet, während er sich über die Sparsamkeit in seinem Haushalte freut; oder daß er sich der erbarmenden Freigebigkeit rühmt, während er sein Vermögen verschwendet; oder daß er durch seine Nachsicht die Untergebenen der Hölle zuführt, während er doch strafen sollte; oder daß er die Fehler anderer schonungslos ahndet, während er selbst noch viel größere Fehler begeht; oder durch Übereilung einer Sache, die mit Genauigkeit und Ernst hätte geschehen sollen, ihren Wert nimmt; oder durch Hinausschieben das Verdienst eines guten Werkes ins Gegenteil verkehrt.