36. Sein Verhalten gegenüber den Versuchungen der Hoffart des Lebens.
Soll ich etwa auch dies gering anschlagen? Oder wird etwas anderes uns der Hoffnung zurückgeben als deine wohlbekannte Barmherzigkeit, nachdem du bereits begonnen hast, mich umzuwandeln? Und du weißt ja auch, wie weit du mich bereits umgewandelt hast. Zuerst hast du mich geheilt von der Sucht, die Schuld außer mir zu suchen, damit du alsdann mir auch „gnädig würdest in betreff aller meiner übrigen Missetaten, alle meine Gebrechen heiltest, mein Leben vom Verderben erlösetest, mich mit Gnade und Erbarmung kröntest und mein Verlangen mit deinen Gütern sättigtest“1; durch die Furcht vor dir hast du meinen Hochmut gebändigt und meinen Nacken an dein Joch gewöhnt. Und nun trage ich es, und es ist mir leicht. Denn so hast du S. 260 es versprochen und so es getan; so war es auch früher, und nur aus Unkenntnis fürchtete ich mich, es auf mich zu nehmen.
Aber wie ist es, o Herr, der du allein herrschest ohne Überhebung, der du allein der wahre Herr bist, der du keinen Herrn hast, ist auch jene Art der Versuchung von mir gewichen? Kann überhaupt in diesem Leben der Wunsch von mir weichen, von den Menschen gefürchtet und geliebt zu werden, und zwar einzig deshalb, damit uns daraus eine Freude entstehe, die gar keine Freude ist? Das wäre ein armseliges Leben und häßliche Prahlerei. Das ist auch der Grund, weshalb man dich so oft nicht liebt und nicht in Frömmigkeit dich fürchtet Und deshalb „widerstehest du den Hochmütigen, den Demütigen aber gibst du deine Gnade“2, „dein Donner erschallt“3 über dem Ehrgeiz dieser Welt und es erbeben „die Grundfesten der Berge“4. Und weil nun die verschiedenen Verhältnisse in der menschlichen Gesellschaft es erfordern, daß wir von manchen Menschen geliebt, von anderen gefürchtet werden, da setzt uns sofort der Feind unserer wahren Glückseligkeit zu und streut überall in seinen Schlingen den Köder des Beifalls: „Recht so, recht so“ aus, damit wir, diese Lockspeise gierig aufnehmend, in unserer Unvorsichtigkeit gefangen werden, unsere Freude an deiner Wahrheit verlieren und sie im Truge der Menschen finden. So wollen wir dann nicht deinetwegen, sondern an deiner Statt geliebt und gefürchtet werden. Und nachdem uns der Feind auf solche Weise zu seinesgleichen gemacht hat, will er uns bei sich haben, nicht zur Eintracht in der Liebe, sondern zur Teilnahme am Gericht, damit ihm, der da beschloß, seinen Thron aufzustellen an der Seite gegen Mitternacht, und der dich in verzerrter, verkehrter Weise nachäfft, Geister voll Finsternis und Herzen voll Kälte dienten. Wir aber, o Herr, wir sind deine kleine Herde“5, du sollst uns besitzen. Breite deine Flügel aus, damit wir unter sie flüchten. Du sollst unser S. 261 Ruhm sein; deinethalben wollen wir geliebt, deinethalben untereinander gefürchtet werden. Wer von den Menschen gelobt werden will, wenn du ihn tadelst, wird nicht verteidigt werden von den Menschen, wenn du richtest, und nicht gerettet werden, wenn du verdammst. Wenn aber „der Sünder nicht gelobt wird in den Lüsten seiner Seele und der Übeltäter nicht gesegnet wird“6, sondern der Mensch gelobt wird wegen der Gaben, die er von dir empfangen hat, jener aber sich mehr freut über das ihm gespendete Lob als über die ihm verliehene Gabe, die ihm Lob einbringt: so wird er zwar auch gelobt, aber du tadelst ihn, so daß der besser daran ist wer gelobt hat, als wer gelobt worden ist. Denn jenem gefiel an dem Menschen die Gabe Gottes, diesem dagegen mehr die Gabe des Menschen als die Gabe Gottes.