1. Cap. Ob herkömmliche christliche Sitten und Gebräuche sich ändern oder verbessert werden können? Die Glaubensregel ist zwar unveränderlich und unverbesserlich, nicht aber ein jedes blosse Herkommen, zumal da das Christentum ja eine weitere Entfaltung der in ihm liegenden Kräfte nicht ausschliesst.
S. 355 Nachdem ich mit meiner Ansicht bereits mein gewöhnliches Schicksal erlitten habe,1 will ich nun auch in lateinischer Sprache den Beweis führen, dass sich unsere Jungfrauen von dem Zeitpunkt an, wo sie die Grenze dieser ihrer Alterstufe überschritten haben, verschleiern müssen. So fordert es die Wahrheit, gegen welche niemand eine Einrede erheben kann, nicht die Länge der Zeit, nicht Vergünstigungen von Personen, nicht ein Privilegium einer Gegend. Aus solchen Umständen nämlich pflegt ein Herkommen, wenn es aus einem Mangel an Kenntnis oder aus Einfalt entstanden ist, durch Nachfolge zu einem Gewohnheitsrecht zu erstarken und sich so gegen die Wahrheit zu behaupten. Allein unser Herr Christus hat gesagt, „ich bin die Wahrheit”, nicht, ich bin das Herkommen.2 Wenn Christus immer und vor allem ist, dann ist ebenmässig die Wahrheit etwas immerwährendes und altes. Wenn also manchen Leuten das etwas neues ist, was für sich etwas altes ist, so ist das ihre Sache. Die Häresien werden nicht sowohl durch ihre Neuheit als vielmehr durch die Wahrheit widerlegt.3 Was gegen die Wahrheit verstösst, das ist Häresie, und wenn S. 356 es auch ein altes Herkommen wäre. Unkenntnis aber ist immer ein Fehler des Betreffenden selber. Was man nicht kennt, das hätte man suchen, sowie das, was man anerkennt, auch in der That annehmen müssen.
Die Glaubensregel ist durchaus nur eine; sie allein ist unbeweglich und unverbesserlich, nämlich dass man glaube an einen einzigen, allmächtigen Gott, den Schöpfer der Welt, und seinen Sohn Jesus Christus, der geboren ist aus Maria, der Jungfrau, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, am dritten Tage wieder auferweckt von den Toten; aufgenommen in den Himmel, sitzt er jetzt zur Rechten des Vaters, um wieder zu kommen zu richten die Lebendigen und die Toten, infolge der Auferstehung auch des Fleisches.
Während diese Gesetzesformel des Glaubens bestehen bleibt, lassen doch die übrigen Punkte der Lehre und des Wandels neue Verbesserungen zu, indem die Gnade Gottes ununterbrochen bis zum Ende wirkt und zunimmt. Denn was sollte es heissen, wenn das Werk Gottes stocken oder aufhören wollte, Fortschritte zu machen, während dagegen der Teufel fortwährend thätig ist und alle Tage neue Künste der Gottlosigkeit bringt!? Der Herr hat ja gerade deswegen den Paraklet gesendet, um der Disciplin durch jenen Stellvertreter des Herrn, den h. Geist, allmählich die Richtung zu geben, sie zu ordnen und zur Vollkommenheit zu führen, da die Schwäche des Menschen nicht imstande war, alles auf einmal zu fassen. „Ich habe Euch noch vieles zu sagen,” heisst es, „allein Ihr könnt es noch nicht tragen; wenn er aber kommen wird, der Geist der Wahrheit, so wird er Euch in alle Wahrheit einführen und Euch das Zukünftige verkünden.”4 Aber auch vorher hat er schon von seinem Wirken geredet. Was also ist die Thätigkeit des Paraklet anders, als der Disciplin ihre Richtung zu geben, die h. Schrift aufzuschliessen, die richtige Einsicht herzustellen und den Fortschritt zum Bessern zu bewirken. Nichts geht ohne seine Zeitperioden vor sich, alles will seine Zeit haben. So sagt denn auch der Ecclesiastes: „Alles hat seine Zeit.”5 Schaue hin auf die Geschöpfe selbst, wie sie nach und nach zum Fruchttragen gelangen. Erst ist das Samenkorn da, und aus dem Samenkorn entsteht ein Reis, das Reis wächst zum Bäumchen heran; dann werden die Äste und Zweige stärker und es steht der ganze Baum entfaltet da. Danach schwellen die Knospen, die Blume quillt aus der Knospe hervor und aus der Blume entwickelt sich die Frucht; auch diese ist noch eine Zeitlang unreif und unausgebildet, und wenn sie ihr gehöriges Alter erreicht hat, so entwickelt sich der milde Wohlgeschmack. So befand sich auch die Gerechtigkeit —– denn der Gott der Gerechtigkeit und der Schöpfung ist einer und derselbe —– zuerst in ihren Anfängen; die Natur fürchtete Gott; sodann trat sie mit Hilfe des Gesetzes und der Propheten in ihre Kindheit, danach durch das Evangelium in ihr feuriges S. 357 Jugendalter, und nun entwickelt sie sich durch den Paraklet zur vollen Reife. Der wäre es nun, welcher nach Christus allein noch Lehrer zu nennen und als solcher zu ehren ist. Denn er redet nicht aus sich, sondern was ihm von Christus aufgetragen wird. Dieser ist allein sein Vorgänger, weil jener der einzige nach Christus. Die, welche ihn aufgenommen haben, geben der Wahrheit vor dem Herkommen den Vorzug. Die, welche immerfort auf seine Weissagungen hören, nicht bloss auf die aus der Vorzeit, die verhüllen ihre Jungfrauen.
-
Wahrscheinlich das, wenig Anklang zu finden. ↩
-
Dieselbe Bemerkung machten mit denselben Worten Mitglieder der karthagischen Synode vom 1. Sept. 256 in Sachen des Ketzertaufstreites. Cfr. Cypriani op. ed. Hartel t. I. pag. 418, Nr. 30. ↩
-
Dieser Satz: Haereses non tam novitas quam veritas evincit verstösst nicht gegen das Präskriptionsprinzip des Autors. ↩
-
Joh. 16, 12. ↩
-
Eccl. 3, 17. ↩