72.
Von allem, was aus verdienstlicher Barmherzigkeit geschieht, gilt darum das Wort des Herrn: „Gebt nur Almosen! Und siehe, alles ist euch rein1.“ Es gibt aber nicht bloß der Almosen, der dem Hungrigen Speise, dem Durstigen Trank, dem Nackten Kleidung, dem Fremdling Herberge, dem Flüchtling eine Zuflucht, dem Kranken oder Eingekerkerten einen S. 459 Besuch, dem Gefangenen Erlösung, dem Schwachen Stütze, dem Blinden Geleite, dem Traurigen Trost, dem Ungesunden Heilung, dem Irrenden Weisung, dem Zweifelnden Rat, kurz jedem Notleidenden das Notwendige zukommen läßt2, sondern auch der gibt Almosen, der dem Fehlenden Verzeihung gewährt. Und wer denjenigen, über den er Gewalt hat, zwar mit Strafen bessert oder durch irgend welche Zuchtmittel im Zaume hält, ihm dabei aber die Sünde, durch die er Schaden erlitten hat oder beleidigt worden ist, von Herzen verzeiht3 oder für ihn betet, auf daß er Verzeihung finde: auch der gibt Almosen, und zwar nicht allein dadurch, daß er ihm verzeiht oder für ihn betet, sondern auch dadurch, daß er ihn züchtigt und heilsam bestraft; denn damit übt er ein Werk der Barmherzigkeit. Man kann nämlich auch wider den Willen der Menschen viel Gutes erweisen, wenn man auf ihren Nutzen, nicht aber auf ihren Willen schaut; gar mancher ist ja sein eigener Feind, während er dagegen diejenigen, die tatsächlich seine Freunde sind, für seine Feinde hält. Und in dieser irrigen Meinung vergilt er ihnen Gutes mit Bösem, während doch ein Christ nicht einmal Böses mit Bösem vergelten soll4. Es gibt demnach viele Arten des Almosens, deren Übung uns zu unserer eigenen Sündenvergebung behilflich ist.