56. Die Beweinung des Lazarus.
S. 212 Mit gleichwirklichen Tränen ist auch Lazarus beweint worden.1 Ich frage zunächst: Was sollte bei Lazarus beweint werden? Jedenfalls nicht der Tod, der nicht zum Tod ist, sondern der Verherrlichung Gottes dient. Der Herr sagt nämlich: „Jene Krankheit ist nicht zum Tode, sondern für die Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes durch ihn verherrlicht werde.”2 Der Tod hat also nicht die Traurigkeit des Weinens veranlaßt, der ja Anlaß zur Verherrlichung Gottes ist.
Aber auch darin bestand keine Notwendigkeit zu weinen, daß er beim Tode des Lazarus fern gewesen war. Sagt er doch selbst ausdrücklich: „Lazarus ist gestorben, und ich freue mich euretwegen, damit ihr Glauben gewinnet, weil ich nicht bei ihm war.”3 Seine Abwesenheit hat also nicht das Weinen veranlaßt, die dem Glauben der Apostel zum Vorteil wurde, da doch das Wissen der göttlichen Erkenntnis trotz seines Fernseins den Tod des Erkrankten vorhergesagt hatte.
Gar keine Notwendigkeit zu weinen bleibt also mehr, und dennoch ist es geschehen. Und dennoch frage ich: wem soll man jenes Weinen zuschreiben? Gott oder der Seele oder dem Körper? Für sich allein hat der Körper jedoch keine Tränen, die er ja auf den Schmerz der trauernden Seele hin vergießt. Es ist aber bei weitem noch weniger der Fall, daß Gott geweint habe, der in Lazarus verherrlicht werden sollte. Es war aber nicht angebracht, daß die Seele den Lazarus aus dem Grabe rufe und daß auf den Befehl und die Kraft der leibverbundenen Seele hin die Seele in den verstorbenen Leib zurückgerufen werde, die von ihm schon abgelöst war.4 Schmerz leidet, wer verherrlicht werden soll? Es weint, wer zum Leben wecken wird? Dem ziemt nicht das Weinen, der zum Leben wecken wird, und dem nicht der S. 213 Schmerz, der verherrlicht werden soll: und dennoch weckt zum Leben, wer geweint und auch Schmerz erlebt hat.5