Kap. 10. Bei einiger Selbsterkenntnis müßte jeder zugeben, daß noch schlimmer als die gegenwärtigen Drangsale die menschlichen Leidenschaften wüten.
Der du über andere richtest, sei endlich einmal auch dein eigener Richter, schau in die geheimen Winkel deines Gewissens oder vielmehr — denn man kennt ja nicht einmal mehr eine Scheu vor dem Vergehen, und man sündigt gerade so, als ob man eben durch die Sünden erst Gefallen erweckte —, der du deutlich und unverhüllt allen sichtbar bist, betrachte dich auch selbst einmal! Entweder bist du nämlich von Hochmut aufgeblasen oder aus Habsucht raubgierig oder vor Jähzorn wütend, oder es macht dich das Würfelspiel verschwenderisch oder die Trunksucht berauscht oder der Neid gehässig oder die Wollust unzüchtig oder die Grausamkeit gewalttätig. Und da wunderst du dich noch, wenn zur Bestrafung des Menschengeschlechts der Zorn Gottes immer mehr anwächst, obwohl doch die Schuld von Tag zu Tag größer wird, die Strafe verdient? Du beklagst dich darüber, daß der Feind sich erhebt, gerade als ob mitten in der Zeit der friedlichen Toga wirklicher Friede herrschen könnte, selbst wenn kein Feind da wäre. [Du beklagst dich darüber, daß der Feind sich erhebt,] gerade als ob nicht im Innern die Waffen des häuslichen Kampfes infolge der Ränke und Gewalttätigkeiten mächtiger Bürger noch wilder und schlimmer wüteten, selbst wenn draußen die gefahrdrohenden Waffen der Barbaren überwältigt würden. Über Mißwachs und Hunger klagst du, als ob die Trockenheit größere Hungersnot hervorriefe als die menschliche Habgier, als ob nicht durch künstliche Anhäufung der Getreidevorräte und Steigerung der Preise das Feuer der Not noch mächtiger emporloderte. Du klagst, daß der Himmel dem Regen verschlossen bleibt, obwohl doch so schon die Scheunen verschlossen bleiben S. 213 auf Erden. Du klagst, es wachse weniger, als ob das, was schon gewachsen ist, den Dürftigen dargereicht würde. Pest und Seuche schuldigst du an, obwohl doch gerade durch die Pest und Seuche die Verbrechen der einzelnen entlarvt oder vermehrt worden sind, indem den Kranken keine Barmherzigkeit erwiesen wird und auf die Verstorbenen nur Habgier und Raub lauert. Die nämlichen, die im Dienste der Nächstenliebe so zurückhaltend sind, zeigen sich rasch entschlossen, wenn es sich um ruchlosen Gewinn handelt; sie fliehen vor dem Elend der Sterbenden und greifen hastig nach der Beute der Gestorbenen, und so wird es deutlich offenbar, daß man die Unglücklichen in ihrer Krankheit vielleicht nur deshalb im Stiche gelassen hat, damit sie ja nicht davonkommen können, wenn sie Pflege finden; denn den Untergang des Kranken hat doch der gewünscht, der über das Vermögen des Sterbenden sogleich herfällt.