9. Moses und der Zug der Israeliten durch die Wüste
Zahllose Beispiele könnte ich noch anführen; aber ich fürchte, es möchte scheinen, ich hätte eine ganze Geschichte zusammengeschrieben, während ich mich anstrenge, die Sache genügend zu beweisen. Moses, 1 in der Einsamkeit seine Herde weidend, sieht den brennenden Dornbusch, hört Gott aus dem Dornbusch, nimmt seine Befehle entgegen, wird durch Macht erhöht, zum Pharao geschickt. Er kommt hin, spricht, wird verachtet und - siegt. Ägypten wird geschlagen, Pharaos Ungehorsam gezüchtigt, und zwar nicht auf eine Art, sondern so, daß der Frevler durch die Mannigfaltigkeit der Plagen noch mehr gequält wird. Und zuletzt? Zehnmal empört er sich, zehnmal wird er geschlagen. Und was sagen wir dazu? Ich bin der Ansicht, daß man in diesen Vorgängen Gott sowohl als Lenker wie auch als Richter der Menschendinge erkennen müsse. Es steht fest, daß in Ägypten das Gericht Gottes nicht einmal, sondern viele Male stattfand. Denn so oft er das sich empörende Ägypten schlug, ebenso oft richtete er. Aber was folgte nach dem Erzählten? Israel wird entlassen, feiert das Paschafest, beraubt die Ägypter und zieht bereichert fort. Es reut den Pharao, er zieht ein Heer zusammen, erreicht die Flüchtigen, der Lagerplatz verbindet sie, Finsternis trennt sie; das Meer wird trocken, Israel schreitet hinüber und wird durch den geduldigen Gehorsam der Wogen befreit. Pharao folgt, das Meer stürzt sich wieder über ihn, die Flut bedeckt S. 62 und vernichtet ihn. Ich glaube, daß in diesen Geschehnissen Gottes Gericht nicht schwer zu erkennen ist und zwar nicht nur sein Gericht, sondern auch seine Mäßigung und Geduld. Es war Geduld, daß die aufrührerischen Ägypter oft geschlagen werden mußten; und es war Gericht, daß er die hartnäckigen Frevler mit dem Tode bestrafte. Nach diesen Ereignissen zieht das Volk der Hebräer siegreich, ohne Krieg gefühlt zu haben, in die Wüste. Es zieht seine Straße ohne Straße, es macht seinen Weg ohne Weg. Gott geht ihm voran, es ist geehrt durch das göttliche Bündnis, stark durch himmlische Führung; es folgt der beweglichen Säule, die wie eine Wolke am Tage, wie ein Feuer bei Nacht ist, die im Wechsel der Farbe sich dem Wechsel der Tageszeiten anpaßte, so daß sie sich vom Licht des Tages durch ihre dunkelgraue Farbe deutlich abhob und die Finsternis der Nacht durch feurigen Glanz erhellte. Dazu kommt noch, daß plötzlich Quellen entsprangen; dazu kommt, daß heilsame Wasser flossen, mochten sie so gespendet oder so verwandelt sein, daß sie ihr Aussehen bewahrten, ihre Natur aber änderten. Dazu kommt, daß aus den Gipfeln der Berge Bäche hervorbrachen, daß staubige Gefilde von nie gesehenen Wassern überströmten; dazu kommt, daß Vogelscharen ins Lager der Dahinziehenden flogen, daß Gott in seiner nachsichtigen Güte nicht nur der Notdurft des Lebens, sondern auch der Gaumenlust der Menschen entgegenkam. Vierzig Jahre gab er Speise, die täglich vom Himmel aufgetischt wurde; das Firmament ließ beständig süße Nahrung wie Tau herabtropfen; sie floß nicht nur zum Lebensunterhalt, sondern gewährte auch Freude. Dazu kommt weiterhin, daß die Menschen an keinem ihrer Glieder Mehrung oder Verlust merkten, die Nägel nicht wuchsen, die Zahne nicht ausfielen, die Haare immer gleich blieben, die Füße nicht wund wurden, die Kleider und Schuhe nicht zerrissen und daß so die wunderbare Ausdehnung der Menschen sich erstreckte bis auf die wert- S. 63 losen Kleider. Und dazu: zur Erziehung des Menschengeschlechtes steigt Gott auf die Erde hernieder; Gottsohn macht sich menschlichen Blicken sichtbar, das zahllose Volk wird zu vertrauter Gemeinschaft mit der Gottheit zugelassen, durch göttliche Freundschaft geehrt. Und dann der Donner, die Blitze, die schrecklichen Posaunenklänge vom Himmel, ein furchtbares Erdröhnen des ganzen Äthers, der Himmel tost von unheimlichem Lärm; und Feuer und Finsternis und die Wolke, die Gott umhüllt; und der Herr, der ganz aus der Nähe sprach; und das Gesetz, das aus göttlichem Munde erklang; und die von Gottes Finger hingeschriebenen Buchstaben, Zeilen, Seiten, ein Buch aus Stein. Ein lernendes Volk, ein lehrender Gott; Himmel und Erde eine Schule, da Engel und Menschen fast untereinander gemischt sind. Denn so, steht geschrieben, hat Gott zu Moses gesprochen, als er die Worte des Volkes dem Herrn überbracht hatte: „Jetzt will ich zu dir hinkommen in einer finsteren Wolke, damit mich höre das Volk mit dir reden.„ 2 Und gleich darauf: „Siehe, die Donner begannen zu rollen, Blitze leuchteten, und eine dichte Wolke bedeckte den Berg.“ 3 Desgleichen: „Er stieg herab auf den Berg Sinai, auf den Gipfel des Berges.„ 4 Gleich darnach: „Er redete mit Moses, während alle zuschauten, wie die Wolkensäule vor der Türe des Zeltes stand; und sie standen und beteten an der Türe ihrer Zelte. Es sprach aber der Herr zu Moses von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde zu reden pflegt.“ 5 Ist es nach all diesen Vorgängen nicht klar, daß Gott Sorge trägt um die Menschen, daß er ihnen so Großes gibt, so Großes gewährt, daß er das kleine Menschlein am Gespräch mit sich teilnehmen läßt und es sozusagen zum heiligen freundschaftlichen Verkehr zuläßt, ihm seine von unvergänglichen Reichtümern volle Hand öffnet, ihn mit dem Becher voll Göttertrank und mit himmlischer Speise nährt? Was für eine größere S. 64 Sorgfalt in seiner Leitung, so frage ich, was für eine größere Liebe kann er ihm gewähren als daß die Menschen während sie noch auf dieser Welt lebten, bereits einen Schein künftiger Seligkeit genossen?