1. Anlaß der Schrift.
S. 69 Oftmals habe ich wahrgenommen, lieber Donatus, daß sehr viele die Ansicht hegen, die auch einige der alten Philosophen gehegt haben, daß Gott nicht zürne1, sei es weil die göttliche Wesenheit lediglich nur guttätig sei und es der vorzüglichsten und besten Macht nicht zukomme, jemand zu schaden, oder doch weil Gott sich überhaupt um nichts kümmere, so daß uns weder aus seinem Wohltun ein Gut noch aus seinem Übeltun ein Schaden erwachsen kann. Dieser Irrtum ist sehr folgenschwer und würde den Umsturz der Ordnung des menschlichen Lebens nach sich ziehen; er bedarf daher einer eingehenden Widerlegung, damit nicht auch du ihm anheimfallest auf das Ansehen von Männern hin, die sich für weise halten. Doch sind wir nicht so unbescheiden, uns zu rühmen, als hätten wir mit eigenem Scharfsinn die Wahrheit erfaßt; wir folgen nur der Lehre Gottes, der allein das Verborgene wissen und offenbaren kann. Diese Lehre war den Philosophen unbekannt; darum glaubten sie, das Wesen der Dinge durch Mutmaßung erraten zu können. Das kann aber in keiner Weise geschehen. Denn der Geist des Menschen, von der dunklen Wohnung des Leibes umschlossen, ist weit entfernt von der Erkenntnis der Wahrheit, und gerade dadurch unterscheidet sich die Gottheit von der Menschheit, daß dem Menschen das Nichtwissen, der Gottheit das Wissen eigen ist. Daher bedürfen wir irgendeines Lichtes, das die Finsternis verscheucht, die über dem ganzen Denken des Menschen liegt; denn im sterblichen Fleische können wir mit unseren Sinnen das Göttliche nicht erfassen. Das Licht nun des S. 70 menschlichen Geistes ist Gott; wer Gott kennt und in sein Inneres aufnimmt, dem erleuchtet sich das Herz, und er erkennt das Geheimnis der Wahrheit. Nimmt man aber Gott und die himmlische Unterweisung hinweg, so ist alles voll Irrtum, und mit Recht hat Sokrates, der gelehrteste aller Philosophen, zur Beschämung der übrigen, die sich irgendein Wissen beilegten, den Ausspruch getan, er wisse nur das eine, daß er nichts wisse; denn er sah ein, daß jene Gelehrsamkeit nichts Verlässiges, nichts Wahres an sich habe, und er sprach sich selbst nicht, wie manche glaubten, die Wissenschaft ab, um andere der Unwissenheit zu überführen, sondern er sah zu einem Teile die Wahrheit; und er hat nach Platos Überlieferung auch vor Gericht bezeugt, daß die menschliche Weisheit so gut wie nichts ist. So sehr hat Sokrates die Gelehrsamkeit, mit der damals die Philosophen sich brüsteten, mit Spott und Geringschätzung zurückgewiesen, daß er gerade das als höchste Wissenschaft erklärte, daß er nichts zu wissen gelernt habe. Wenn es demnach keine menschliche Weisheit gibt, wie Sokrates gelehrt und Plato überliefert hat, so erhellt von selbst, daß es eine göttliche gibt und daß niemand anderem als Gott die Kenntnis der Wahrheit zukommt. Man muß also Gott erkennen, in dem allein die Wahrheit ist; man muß jenen Vater und Schöpfer des Alls erkennen, den man mit leiblichen Augen nicht schauen und kaum mit dem Geiste wahrnehmen kann. Seine Religion pflegt auf vielfache Weise von denen angegriffen zu werden, die weder die wahre Weisheit zu besitzen noch das große und himmlische Geheimnis zu erfassen vermochten.
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Unter Gnade und Zorn ist die belohnende und strafende Gerechtigkeit Gottes zu verstehen. ↩