Dritter Artikel. Der Gehorsam ist nicht die größte Tugend.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. 1. Kön. 15. heißt es: „Besser ist der Gehorsam wie Opfer;“ also besser wie die Tugend der Religion, die hauptsächlichste unter den moralischenTugenden. II. Gregor (ult. moral. 10.) sagt: „Der Gehorsam ist die einzigeTugend, welche die übrigen dem Geiste einprägt und sie da festhält und behütet.“ Die Ursache steht aber höher wie die Wirkung. III. „Niemals darf,“ so wieder Gregor (I. c.), „wegen des Gehorsams etwas Schlechtes geschehen; aber bisweilen kann auf Grund des Gehorsams etwas Gutes, was wir thun, beiseite gelassen werden.“ Nichts Gutes aber darf beiseite gelassen werden außer wegen etwas Besserem. Also ist der Gehorsam besser als alle anderen Tugenden. Auf der anderen Seite kommt das Lobenswerte im Gehorsam daher, weil er aus der Liebe hervorgeht; nach Gregor (l. c.): „Man muß gehorchen, nicht aus sklavischer Furcht, sondern aus hingebender Liebe; nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus Liebe zur Gerechtigkeit.“ Also ist Liebe eine größere Tugend.
b) Ich antworte, wie die Sünde darin bestehe, daß jemand unter Verachtung Gottes veränderlichen Gütern anhängt; so besteht das Verdienst des Tugendaktes darin, daß der Mensch unter Verachtung der geschaffenen Güter Gott als dem Zwecke anhänge. Der Zweck aber steht höher wie das bloß Zweckdienliche. Wenn also die geschaffenen Güter verachtet werden, um Gott anzuhängen; so ist das Lob der Tugend größer deshalb weil sie Gott anhängt als weil sie die geschaffenen Güter verachtet. Sonach sind jene Tugenden, kraft deren man Gott an sich betrachtet anhängt, hauptsachlicher wie jene, vermittelst deren das Zeitliche verachtet wird, um Gott anhängen zu können; die theologischen also stehen höher wie die moralischen. Unter den moralischen Tugenden aber wird jene an erster Stelle stehen, kraft deren ein größeres Gut verachtet wird, um Gott anzuhängen Unter diesen Gütern nun nehmen den tiefsten Platz ein die äußeren Güter; dann kommen die des Körpers und endlich die der Seele und zumal der Wille, vermittelst dessen der Mensch alle seine übrigen Vermögen in Thätigkeit setzt und gebraucht. Also verdient an sich betrachtet der Gehorsam mehr Lob wie die anderen moralischen Tugenden; weil er wegen Gott den eigenen Willen verachtet, während die übrigen um Gottes willen die anderen Güter verachten. Deshalb sagt Gregor (I. c.): „Der Gehorsam steht mit Recht den Opfern voran; denn durch die Opfer wird fremdes Fleisch, durch den Gehorsam der eigene Wille geschlachtet.“ Und danach sind auch andere Tugendwerke aus dem Grunde verdienstlich, weil sie geschehen, um Gottes Willen zu gehorchen. Denn auch das Martertum oder der Verzicht auf alle Güter zugunsten der Armen würde nichts helfen und nicht verdienstlich sein, wenn man es nicht thäte, um den Willen Gottes zu erfüllen, was ohne Gehorsam nicht sein kann; ebenso wie wenn diese Werke ohne Liebe vollbracht würden, die ja ohne Gehorsam nicht sein kann. Denn 1. Joh. 13. heißt es: „Wer da sagt, er kenne Gott und beobachtet seine Gebote nicht; der ist ein Lügner…, wer aber die Gebote Gottes hält, wahrhaft in dem ist die Liebe Gottes vollkommen.“ Die Freundschaft macht eben, daß man das Nämliche will und das Nämliche nicht will.
c) I. Der Gehorsam geht von der Ehrfurcht aus und ist mit Rücksicht darauf in verschiedenen Tugenden enthalten, welche Gott oder den Menschen Ehre und Dienstleistung darbringen. An sich betrachtet aber, soweit die Vorschrift als maßgebender Grund berücksichtigt wird, giebt es da nur eine specielle Tugend. Insoweit der Gehorsam also von der Ehrfurcht gegenüber den höheren ausgeht, ist er in der Hochachtung enthalten; — insoweit er von der Ehrfurcht gegenüber den Eltern ausgeht, in der Hingebung oder Pietät; — soweit die Ehrfurcht vor Gott seine Quelle ist, in der Religion oder Gottesverehrung und gehört dann zur Andacht, der Hauptthätigkeit der Religion. Danach ist es also lobenswerter, Gott zu gehorchen als Opfertiere darzubringen; denn im Gehorsam „wird der eigene Wille geschlachtet.“ Speciell Saul nun hätte lieber Gott gehorchen als gegen Gottes Gebot die fetten Opfertiere der Amalekiten Gott darbringen sollen. II. Insoweit Tugendakte geboten sind, gehören sie alle insgesamt dem Gehorsam an. Insofern also die Tugendakte wirksam oder in vorbereitender Weise dazu beitragen, die Tugenden zu erzeugen oder zu bewahren, wird vom Gehorsam gesagt, er präge dem Geiste die Tugenden ein und halte sie fest. Jedoch folgt daraus nicht, daß der Gehorsam schlechthin früher sei als alle Tugenden, aus zwei Gründen: 1. Wenn auch ein Tugendakt geboten ist, so kann man doch denselben thun, ohne daß man um das Gebot sich bekümmert. Eine Tugend also, deren Gegenstand seiner Natur nach früher ist als das Gebot, wird der Natur nach als früher bezeichnet wie der Gehorsam; wie das beim Glauben der Fall ist, durch den uns die Erhabenheit der göttlichen Autorität bekannt wird und der somit die Gewalt hat, vorzuschreiben. Es kann 2. das Einflößen der Gnade und der Tugenden der Zeit nach jedem Tugendakte vorangehen. Und somit ist weder der Natur nach (als verursachender Grund der Tugenden) noch der Zeit nach Gehorsam früher als die anderen Tugenden. III. Jenes Gute, an das der Mensch mit Notwendigkeit gebunden ist, wie Gott lieben und Ähnliches, darf wegen des Gehorsams niemals außer acht gelassen werden. Jenes Gut aber, an das der Mensch nicht notwendig gebunden ist, muß er manchmal beiseite lassen um des Gehorsams willen, zu dem der Mensch verpflichtet ist. Jedoch sagt da Gregor (l. c.) „Wer ein Gut, welches auch immer, seinen untergebenen verbietet, der muß Vieles zugestehen, damit nicht der Geist des gehorsamen durchaus zu Grunde gehe, wenn er von allem Guten ganz und gar entfernt fasten muß.