Das Zeugnis des Gewissens
S. 74„Und daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind, und bringen unser Herz vor ihm zur Ruhe, daß Gott, wenn unser Herz uns verurteilt, größer ist als unser Herz und alles kennt“ (3, 19f.). (Auf die fünfte Predigt zurückweisend, erinnert Augustinus zunächst daran, daß der Anfang der Liebe die Mildtätigkeit gegenüber dem bedrängten Bruder, ihre Vollendung die Bereitschaft, für ihn sein Leben hinzugeben, ist.)
Weil solche Werke häufig auch die vollbringen, die anderes suchen und die Brüder nicht lieben, ziehen wir uns zurück auf das Zeugnis des Gewissens! Womit beweisen wir, daß die häufig so handeln, welche die Brüder nicht lieben? Wie viele in Häresie und Schisma nennen sich Märtyrer! Scheinbar setzen sie ihr Leben für ihre Brüder ein. Wenn sie das aber wirklich täten, würden sie sich nicht von der gesamten Brüderschaft trennen. Desgleichen: Wie viele sind, die aus Ruhmsucht vieles von dem Ihren mitteilen, viel verschenken; und dabei nur auf Menschenlob und Volksgunst, die wetterwendisch ist und ohne Bestand, ausgehen! Da es also solche gibt, womit werden wir die Bruderliebe beweisen können?
S. 75Gerade um diesen Beweis war es Johannes doch zu tun, da er mahnte: „Kindlein, laßt uns einander lieben nicht nur im Wort und nicht bloß mit der Zunge, sondern in der Tat und in der Wahrheit.“ Wir fragen: In welcher Tat? In welcher Wahrheit? Kann es ein offenkundigeres Werk geben, als den Armen mitteilen? Und doch tun das viele aus Ruhmsucht, nicht aus Liebe. Kann es ein größeres Werk geben, als für die Brüder sterben? Auch dies scheinen viele auf sich zu nehmen und tun es doch nur aus Ruhmsucht, nicht aus den Tiefen der Liebe. So bleibt nur, daß jener den Bruder liebt, der vor Gott, da, wo Er allein sieht, sein Herz zur Ruhe bringt und es befragt, ob er dies wirklich aus Bruderliebe tut; ihm gibt das Auge Zeugnis, das das Herz durchdringt bis auf jenen Grund, den der Mensch nicht sehen kann. Selbst der Apostel Paulus, der bereit war, für die Brüder zu sterben, und sprechen konnte: „Ich selbst will mich hingeben für ihre Seelen“ (2 Kor. 12, 15), bekennt darum dennoch, weil Gott allein diesen Entschluß seines Herzens sah, nicht die Menschen, zu denen er redete: „Mir ist es ein Geringes, von euch beurteilt zu werden oder von einem menschlichen Tag“ (1 Kor. 4, 33). Und er wies auch selbst einmal darauf hin, daß viele solches aus eitler Ruhmsucht, nicht aus dem festen Grunde der Liebe tun; als er nämlich die Liebe eindringlich empfahl, sagte er: „Wenn ich all das Meinige den Armen gebe und meinen Leib zum Verbrennen hingebe, aber die Liebe nicht habe, so nützt es mir nichts“ (1 Kor. 13, 3). Kann denn einer dies ohne die Liebe tun? Er kann es. Denn solche, die die Liebe nicht haben, haben die S. 76Einheit zerrissen. Schaut dorthin, und ihr werdet sehen, daß viele den Armen viel mitteilen; ihr werdet andere sehen, die bereit sind zur Übernahme des Todes, so sehr, daß sie, wo niemand sie verfolgt, sich selbst in den Tod stürzen;1 solche tun das zweifellos ohne die Liebe.2 Halten wir also Einkehr in unser Gewissen, von dem der Apostel sagt: „Unser Ruhm ist das Zeugnis unseres Gewissens!“ (2 Kor. 1, 12.) Halten wir Einkehr in unser Gewissen, von dem derselbe sagt: „Ein jeder aber prüfe sein Werk, und dann wird er in sich selbst, nicht in einem andern Ruhm haben“ (Gal. 6, 4). Jeder von uns also prüfe sein Werk, ob es der Ader der Liebe entquillt, ob die Zweige der guten Werke wirklich aus der Wurzel der Liebe sprossen (Tr. 6, 2).
Das also legt uns Johannes hier ans Herz. „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind“, wenn wir in der Tat und in der Wahrheit, nicht nur in Worten und mit der Zunge lieben; „und wir beruhigen unser Herz vor ihm.“ Was S. 77heißt „vor ihm“? Da, wo er sieht. Deshalb sagt der Herr im Evangelium: ,,Hütet euch, euere Gerechtigkeit vor den Menschen zu tun, damit ihr von ihnen gesehen werdet; sonst werdet ihr keinen Lohn haben bei euerem Vater, der im Himmel ist“ (Matth. 6, 1). Und was heißt dies: „Deine Linke soll nicht wissen, was deine Rechte tut“ (Matth. 6, 3), anders, als daß die Rechte das reine Gewissen, die Linke die Weltsucht ist? Viele vollbringen aus Weltsucht Erstaunliches: die Linke ist am Werk, nicht die Rechte. Die Rechte muß wirken, ohne daß die Linke es weiß, damit sich die Weltsucht nicht beimische, wenn wir aus Liebe etwas Gutes tun. Und woran erkennen wir das? Vor Gott stehst du; frage dein Herz. Schau, was du getan hast und was du dabei angestrebt hast, ob dein Heil oder unbeständiges Menschenlob! Nach innen schau: denn der Mensch kann den nicht beurteilen, den er nicht sehen kann. Wenn wir in unserm Herzen Beruhigung finden, dann wollen wir sie vor ihm finden. „Wenn unser Herz uns anklagt“, daß wir nicht in dieser Gesinnung tun, was wir tun müssen, „so ist Gott größer als unser Herz und weiß alles“. Du verbirgst dein Herz vor einem Menschen; vor Gott verbirg es, wenn du es vermagst. Wie wirst du es vor dem verbergen, zu dem ein Sünder in Furcht und Reue spricht: „Wohin soll ich vor deinem Geiste gehen? Und wohin vor deinem Antlitz fliehen?“ Er suchte einen Zufluchtsort, um dem Gerichte Gottes zu entgehen, und fand keinen. Denn wo ist Gott nicht? „Wenn ich hinaufsteige in den Himmel, so bist du dort; und wenn ich hinabsteige in die Unterwelt, so bist du da“ (Ps. 138,
S. 78 Wohin wirst du gehen, wohin fliehen? Willst du einen Rat hören? Wenn du vor ihm fliehen willst, so fliehe zu ihm! Zu ihm fliehe im reuigen Bekenntnis, nicht indem du dich vor ihm verbirgst; verbergen kannst du dich ja nicht, aber bekennen kannst du. Sprich zu ihm: „Meine Zuflucht bist du“ (Ps. 31, 7) ; und es wachse in dir die Liebe, die allein zum Leben führt. Dein Gewissen gebe dir das Zeugnis, daß es aus Gott ist. Wenn es aus Gott ist, dann rühme dich nicht vor den Menschen! Denn weder hebt dich Menschenlob hinauf in den Himmel noch stürzt Menschentadel dich von dort herab. Jener sehe dein Tun, der die Krone gibt; jener sei dein Zeuge, der dich als Richter krönt. ,,Größer ist Gott als unser Herz, und er weiß alles“ (Tr. 6, 3).
-
Augustinus spielt damit auf gewisse Vorkommnisse bei der Sekte der Donatisten an. ↩
-
Die Kirche hat den Rigorismus Augustins, der hier und an andern Stellen zum Ausdruck kommt, als ob es wahre, gnadengewirkte Liebe und eine unsichtbare Zugehörigkeit zur „Seele“ der Kirche ohne die äußere Verbindung mit der sichtbaren katholischen Kirche in keinem Fall geben könnte, nicht übernommen. Der Eindruck der weltumspannenden katholischen Kirche und der Glaube an die Notwendigkeit der sichtbar-unsichtbaren Einheit aller an Christus Glaubenden waren bei dem Kirchenlehrer so tief, daß er psychologische Hemmungen bei andern nicht hinreichend zu würdigen vermochte. ↩