Furcht und Liebe
Seht nun, was Johannes über die Zuversicht selbst sagt! Woran wird die vollkommene Liebe erkannt? „Die Furcht ist nicht in der Liebe.“ Was also sagen wir von dem, der angefangen hat, sich vor dem Tag des Gerichtes zu fürchten? Wenn die vollkommene Liebe in ihm wäre, würde er sich nicht fürchten. Denn die vollkommene Liebe hätte die vollkommene Gerechtigkeit zur Folge und hätte keinen Grund zur Furcht. Sie hätte vielmehr Grund danach zu verlangen, daß die Bosheit vergehe und das Reich Gottes komme. Also ist in der Liebe keine Furcht. Aber in welcher Liebe? Nicht in der beginnenden. In welcher also? „Sondern die vollkommene Liebe verdrängt die Furcht“ (4, 18). Also mache die Furcht den Anfang! Denn „der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“. Die Furcht bereitet gleichsam der Liebe den Platz. Wenn aber die Liebe in dir zu wohnen begonnen hat, dann treibt sie die Furcht aus, die ihr den Platz bereitete. In dem Maß, in dem jene wächst, nimmt diese ab; und in dem Maß, in dem jene das Innere erfüllt, verdrängt sie die Furcht. Größere Liebe, weniger Furcht; geringere Liebe, größere Furcht. Wo aber keine Furcht ist, da findet die Liebe keinen Anknüpfungspunkt.
Hat die Seele erst die Furchtlosigkeit gewonnen, welche Freude gibt uns dann das Leben in dieser oder in der künftigen Welt! Wer wird uns, wenn wir die Liebe in ihrer Fülle haben, auch nur in S. 125dieser Welt schaden? Hört das Frohlocken des Apostels über die Liebe: „Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Trübsal oder Bedrängnis oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder das Schwert?“ (Röm. 8, 35.) Und Petrus sagt: „Wer kann euch schaden, wenn ihr Eiferer des Guten werdet?“ (1 Petr. 3, 13.) „Die Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe verdrängt die Furcht; denn die Furcht hat Qual.“ Das Sündenbewußtsein quält das Herz, solange die Rechtfertigung noch nicht geschehen ist. Es ist dort etwas, was beunruhigt, was brennt. Was sagt darum der Psalmist über die vollkommene Gerechtigkeit? „Du hast meine Trauer mir in Freude gewandelt, du hast mein Trauerkleid gelöst und mich mit Freude umgürtet, auf daß mein Lob dir erklinge und ich nicht erschüttert werde“ (Ps. 29, 12 f.). Was bedeutet das, „auf daß ich nicht erschüttert werde“? Nichts soll sein, was mein Gewissen beunruhigt. Es beunruhigt aber die Furcht. Doch fürchte dich nicht! Die Liebe trete ein, die heilt, was die Furcht verletzt: Die Furcht Gottes verletzt so, wie das Messer des Arztes; dieses beseitigt den Krankheitsherd und scheint gleichsam die Wunde zu vergrößern. Kleiner war die Wunde, als das wilde Fleisch am Leibe war, aber gefährlich; es kommt das Messer des Arztes darüber; vorher schmerzte die Wunde weniger als jetzt, wo geschnitten wird. Mehr schmerzt sie, wenn sie geheilt wird, als wenn sie nicht geheilt würde; aber darum schmerzt sie unter der Einwirkung des Heilmittels mehr, damit sie nach erfolgter Heilung gar nicht mehr schmerze. Es ergreife also die Furcht dein Herz, S. 126um die Liebe einzuführen. Denn wenn du ohne Furcht bist, kannst du nicht gerechtfertigt werden. Dieses Wort ist der Schrift entnommen: „Wer ohne Furcht ist, wird nicht gerechtfertigt werden können“ (Pred. I, 28). Es muß also zuerst die Furcht eintreten, damit durch sie die Liebe komme. Die Furcht ist das Heilmittel, die Liebe die Gesundheit. „Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (4, 18). Warum? „Weil die Furcht Qual hat“, wie der Schnitt eines Arztes Qual schafft (Tr. 9, 4).
Es gibt aber noch einen andern Satz, der diesem entgegengesetzt zu sein scheint, wenn man ihn nicht recht versteht. Es heißt nämlich an einer Psalmstelle: „Die Furcht des Herrn ist rein und währt von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (18, 10). Eine ewige, aber reine Furcht zeigt sie uns. Wenn sie eine ewige Furcht zeigt, widerspricht ihr dann vielleicht das Wort dieses Briefes: „Die Furcht ist nicht in der Liebe, und die vollkommene Liebe verdrängt die Furcht.“ Erforschen wir diese beiden Aussprüche Gottes! Ein Geist ist es, wenn auch zwei Bücher, wenn auch ein zweifacher Mund, wenn auch zwei Zungen! Denn dieses sagt Johannes, jenes David; glaubt doch nicht, daß es ein anderer Geist sei! Wenn ein Hauch zwei Flöten anbläst, kann dann nicht ein Geist zwei Herzen erfüllen, zwei Zungen in Bewegung setzen? Wenn aber zwei Flöten, mit einem Hauche erfüllt, zusammen eine Harmonie ergeben, können dann zwei Zungen, die mit dem Heiligen Geiste erfüllt sind, einen Mißklang geben? Es besteht also da eine Harmonie. Man muß nur ein Ohr für sie haben. Siehe, zwei Herzen und zwei Münder S. 127inspirierte und erfüllte, zwei Zungen bewegte der Geist Gottes; von der einen vernahmen wir: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe verdrängt die Furcht“; von der andern hörten wir: „Die Furcht Gottes ist rein und währt von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Wie, ist das nicht sozusagen eine Dissonanz? Nein, öffne die Ohren, merk auf die Harmonie! Nicht ohne Grund steht hier das „rein“ und dort nicht; denn die Furcht, die rein genannt wird, ist eine andere als jene, die nicht so genannt wird. Machen wir einen Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Furcht und suchen wir die Harmonie der Flöten zu verstehen! Worin liegen das Verständnis und der Unterschied? Es gibt Menschen, die sich vor Gott fürchten, er möchte sie in die Hölle werfen, sie mit dem Teufel im ewigen Feuer brennen lassen. Das ist jene Furcht, die die Liebe einführt, die aber so kommt, daß sie auch wieder vergeht. Denn solange du Gott wegen der Strafe fürchtest, liebst du den noch nicht, vor dem du dich so fürchtest. Du verlangst nicht nach einem Gut, sondern bist auf der Hut vor einem Übel. Darum aber, weil du dich vor einem Übel hütest, besserst du dich und fängst an, nach dem Guten zu verlangen. Hast du erst angefangen, nach dem Guten Verlangen zu tragen, so wird die „reine“ Furcht in dir sein. Was ist die reine Furcht? Die Furcht, du möchtest ein Gut verlieren. Merkt wohl! Ein anderes ist es, sich vor Gott fürchten, er möchte dich mit dem Teufel in die Hölle werfen, ein anderes von Gott fürchten, er möchte sich von dir zurückziehen. Jene Furcht, in der du fürchtest, er möchte dich mit dem Teufel in S. 128die Hölle werfen, ist noch nicht rein; denn sie kommt nicht aus der Liebe Gottes, sondern aus der Furcht vor der Strafe. Fürchtest du aber, Gottes Gegenwart möchte dich verlassen, so umfängst du ihn, verlangst ihn genießend zu schauen (Tr. 9, 5).
Es gibt keinen treffenderen Vergleich für den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Furcht, der einen, welche die Liebe verdrängt, und der andern, reinen, die von Ewigkeit zu Ewigkeit währt, als den Vergleich mit zwei verheirateten Frauen (von denen die eine den Ehebruch nur aus Furcht vor der Entdeckung, nicht aus Liebe zu ihrem Manne und aus Abscheu gegen die darin liegende Bosheit meidet und sich, wenn sie etwa ihrer Lust nachgegeben hat, vor der Rückkehr des abwesenden Mannes und ihrer Bestrafung durch ihn fürchtet; von denen dagegen die andere ihrem Manne in Liebe ergeben ist, darum ihm die Treue hält, seiner Gegenwart sich freut und einzig fürchtet, er möchte sie verlassen). Wende das an auf die Gesinnung der Christen und du findest eine Furcht, welche die Liebe verdrängt, und eine andere reine Furcht, die von Ewigkeit zu Ewigkeit währt (Tr. 9, 6).
Reden wir also zuerst zu denen, die sich so vor Gott fürchten wie jenes Weib, dem die Schlechtigkeit Freude macht; diese fürchtet sich nämlich vor dem Manne, er möchte sie bestrafen. Zu solchen sprechen wir zuerst. O Seele, die du Gott so fürchtest, er möchte dich strafen, wie sich das Weib fürchtet, das an der Schlechtigkeit Freude hat, wie dir jenes Weib mißfällt, so mißfalle auch du dir! Sei so vor Gott, wie du deine Gattin haben willst! Wie, Brüder? Jenes Weib, das sich S. 129deshalb vor dem Manne fürchtet, weil es von ihm gestraft werden könnte, begeht vielleicht keinen Ehebruch, daß nicht etwa ihr Mann auf irgend eine Weise Wind davon bekomme und ihr das Lebenslicht ausblase. Und doch kann ein solcher Mann auch hintergangen werden; denn er ist ein Mensch, wie auch sie, die ihn hintergehen kann. Sie fürchtet sich vor dem, dessen Blicken sie sich entziehen kann; fürchtest du dich nicht immer vor dem Angesichte deines Mannes über dir? „Das Angesicht des Herrn aber ist über denen, die Böses tun“ (Ps. 33, 17). Jene trachtet nach der Abwesenheit ihres Mannes und läßt sich vielleicht zur Freude am Ehebruch anreizen; und sie sagt sich dennoch: Ich will’s nicht tun; jener ist zwar nicht da, aber wahrscheinlich kommt er doch auf irgend eine Weise dahinter. Sie beherrscht sich, daß es nicht zu einem Menschen komme, dem es auch verborgen bleiben kann, der auch getäuscht werden kann, der eine schlechte Frau für gut und auch eine Ehebrecherin für keusch halten kann. Und du fürchtest dich nicht vor den Augen dessen, den niemand hintergehen kann? Du fürchtest dich nicht vor der Gegenwart dessen, der sich nicht von dir abwenden läßt? Bitte Gott, daß er auf dich schaue und sein Angesicht von deinen Sünden wegwende: „Wende dein Angesicht weg von meinen Sünden.“ Aber wie verdienst du es, daß er sein Angesicht von deinen Sünden abwende? Indem du selbst dein Angesicht nicht davon abwendest. Der Psalmist sagt: „Denn ich erkenne meine Bosheit, und meine Sünde ist immer vor mir“ (Ps. 50, 11 5). Sprich du sie dir zu, so spricht jener dich davon los! (Tr. 9, 7.)
S. 130Wir haben zu der Seele gesprochen, die noch jene Furcht hat, die nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit währt, sondern jene, die die Liebe ausschließt und verdrängt; sprechen wir auch zu der, die bereits die reine Furcht hat, die von Ewigkeit zu Ewigkeit bleibt. Finden wir wohl eine solche Seele, um sie anzusprechen? Glaubst du, sie ist in diesem Volke? Glaubst du, sie ist in diesem Bau? Glaubst du, sie ist auf dieser Erde? Sie muß wohl da sein, aber sie ist verborgen. Winter ist es, noch ist das Grünen verborgen im Innern, in der Wurzel. Vielleicht finden wir ihr Ohr. Wo immer aber eine solche Seele ist — o daß ich sie doch finden könnte und nicht sie ihr Ohr mir, sondern ich ihr das meine leihen könnte! Sie könnte mich viel besser belehren, als ich sie belehren kann. Eine heilige, feurige, gottesreichsüchtige Seele, die spreche nicht ich an, sondern Gott selber spricht zu ihr und tröstet sie, die geduldig das Leben auf dieser Erde erträgt, also: „Schon willst du, daß ich komme, und ich weiß, daß du es willst; ich weiß, wie du bist, so daß du ohne Sorge meiner Ankunft entgegensehen kannst; ich weiß, daß das Leben dir eine Last ist, aber warte weiter und dulde; ich komme und komme schnell. Aber der Liebenden währt es zu lange.“ Höre sie, die wie eine Lilie unter Dornen singt; höre sie seufzen und sprechen: „Ich will dich preisen und achten auf untadeligen Wandel; wann wirst du zu mir kommen?“ (Ps. 100, 1 f.) Aber bei untadeligem Wandel fürchtet sie sich mit Fug nicht; denn „die vollkommene Liebe verdrängt die Furcht“. Und wenn er kommt und sie in seine Arme schließt, fürchtet sie sich, aber ohne Unruhe. Warum fürchtet sie S. 130sich? Sie wird sich hüten und vor ihrer Bosheit in acht nehmen, damit sie nicht wieder sündige, nicht um nicht ins Feuer geworfen zu werden, sondern um von ihm nicht verlassen zu werden. Was wird also in ihr sein? Die reine Furcht, die währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Zwei zusammenklingende Flöten haben wir gehört, beide sprechen von der Furcht, aber die eine von der Furcht, in der die Seele sich fürchtet, gestraft zu werden, die andere von der Furcht, in der die Seele sich fürchtet, verlassen zu werden. Jene ist die Furcht, welche die Liebe aussperrt, diese ist die Furcht, die währt von Ewigkeit zu Ewigkeit (Tr. 9, 8).