3.
Aus Maria ward ein Leib geboren, in diesem aber war auch die göttliche Wesenheit. Er ist eigentlich aus zwei Schößen geboren worden als Eingeborener seines Vaters und auch seiner Mutter. [250] Als Sohn ist er beiden ähnlich, sie aber sind ihm nicht ähnlich. Der S. 136 Vater ist dem Sohn nicht ähnlich, denn dieser ist Gott und Mensch; aber der Sohn ist der Mutter ähnlich, weil er seinen Leib wahrhaftig aus ihr hat. Überhaupt ist er eben beiden ähnlich, weil er aus beiden geboren worden ist. Vom Vater empfing er die göttliche Wesenheit, von der Mutter aber die Menschheit. [260] Auf Erden hatte er keinen Vater, sondern nur im Himmel. Die jungfräuliche Geburt kam ihm zu in seiner göttlichen Wesenheit, aber ebenso kam sie ihm zu in seiner Menschheit. Ein Jungfräulicher verkündete seine Ankunft, ein Jungfräulicher verkündete seine Auffahrt, einem Jungfräulichen offenbarte er auch seine Geheimnisse, da er an seiner Brust ruhte1. Er, der Eingeborene, ist der Erstling unserer Natur, der dieselbe so hoch erhoben hat. [270]
Unser Richter ist also geworden gleich unsereinem; darum wollen wir zu ihm rufen, auf daß er sich unser erbarme! Siehe nur die Ursache seiner Erbarmung an, den von uns entlehnten Leib, in welchen er sich gehüllt hat! Lerne den Grund seiner Gnade kennen, seinen Hunger und seinen Durst, er leidet darunter gleich dir! Erforsche seine Güte gegen dich, seinen Schweiß, seine Nachtwachen, und seine Ermüdung! Betrachte die Art und Weise, wie er dir hilft, seine Verspottung, sein Kreuz, seinen Tod! [280] Durchforsche auch die Herrlichkeit, mit welcher er in den Himmel aufgefahren ist! Das Wort: „Der Herr ist mit dir“2 bezeichnet ihn als Gott, aber ohne Leib, wie hätte er sich da an der Brust nähren können? Der Sohn des Allerhöchsten ist geistigerweise in den Leib herabgestiegen, um sich darin zu verbergen. Die Leiden des Leibes schreibe dem Leibe zu und die Wunderwerke Gott! Aber trenne und zerreiße die Naturen nicht, sondern vereinige sie und ordne sie zusammen! [290] Siehe das Wort: „Der Herr ist mit dir“ deutet auf Gott hin, der Name Jesus aber weist auf den Menschen hin! Daß er Erlöser genannt S. 137 wurde, beweist seine Gottheit, daß er ein Kind geworden ist, seine Menschheit. Bringe Opfer dar seiner Majestät, dagegen gib Milch seiner Kindheit! Den Stern3 gib dem Herrn zum Diener, die Knie aber dem Sohne der Mutter! Bring die getöteten Knaben seinem Namen dar4, seiner Kindheit die, welche entflohen sind! [300] Die Jungfräulichkeit seiner Mutter teile seinem göttlichen Wesen zu, die Windeln aber seiner Menschheit! Den Umstand, daß er sich taufen ließ5, schreib seiner Sehnsucht nach unserer Heiligung zu, daß er sich verborgen hat6 aber dem Umstand, daß er von uns stammt! Seinen Hunger teile seiner Ähnlichkeit mit uns zu7, daß er der Speise nicht bedurfte8, seiner Ähnlichkeit mit dem Vater! Durch sein Fasten hat er sich als Mensch erwiesen, durch die Besiegung des Bösen als den, der er war9. Da er nach Kana10 ging, war er Gast; als er Wein machte, war er der Herr. [310] Als er auf dem Schiffe schlief, war er Mensch, da er aber das Meer schalt, war er Gott11. In das Haus Simons kam er als Geladener, für die Sünderin aber war er Erbarmer12. Daß er über seinen geliebten Freund weinte, war menschlich, daß er ihn aber auferweckte, war eine göttliche Tat13. So trafen auch bei seinem Leiden die Schläge die menschliche Natur, der Leib empfand die Schmerzen, aber dabei wohnte die göttliche Wesenheit in ihm. [320] Da er auf die Wange geschlagen wurde14, galt dies dem Leibe, in welchem aber die göttliche Majestät wohnte. Was am Kreuze hing, war der Leib, in demselben aber wohnte die Fülle der Gottheit. Als er S. 138 mit Fäusten traktiert wurde, wurde zwar das Haupt geschlagen, aber das Haupt dessen, der das Haupt des Himmels ist. Den Essig15 kostete jene Zunge, in welcher Geheimnisse verborgen sind. Der Leib wurde zerfleischt, aber jener Leib, der die Wohnung der göttlichen Wesenheit war. [330] Der Körper legte zwar Kleider an, aber er war auch mit der Herrlichkeit bekleidet. Was der Natur gemäß starb, war der Leib, aber dasjenige, was nicht starb, erweckte den Toten wieder zum Leben. Die Gottheit nämlich verließ ihren Bruder, den Leib, nicht in den Leiden, sondern die überirdische Natur verblieb im Leibe auch, während er im Grabe und im Schoß der Erde weilte. Sie war nämlich mit ihm nicht in gleicher Weise verbunden, wie die Seele dem Leibe eingehaucht ist; [340] denn die Seele, die mit ihm verbunden war, verließ ihn, als er aufschrie16, er aber, der die Seele mit dem Leibe verbunden hatte, verblieb in demselben auch nach dem Tode. Die Seele hatte den Körper verlassen und befand sich im Grabe nicht mehr darin, wohl aber verblieb die Gottheit in demselben und schied nicht davon. Die Seele zog das Kleid des Körpers, das sie verlassen hatte, nicht an bis zur Auferstehung, [350] aber die göttliche Wesenheit, mit welcher der Leib angetan ist, verbleibt bei demselben in Ewigkeit. Wie nämlich der Leib geschlagen wurde und dabei die Seele darin gegenwärtig war im Leiden, so war auch seine Gottheit zugegen bei der schmachvollen Behandlung, die der Leib zu erdulden hatte. Was keinen Leib hat, kann nichts fühlen, nicht einmal dem Scheine nach. Denn die Blinden, welche am Wege sitzen, sehen mehr als diese törichten Menschen; [360] jene sind körperlich, diese aber geistig blind; jene … (hier bricht der handschriftliche Text ab). S. 139
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Der Dichter denkt hier jedenfalls an Johannes den Täufer und den Apostel Johannes (Joh. 13, 23). Die Jungfrau, die seine Himmelfahrt verkündete, ist der Engel Matth. 28, 2 ff. ↩
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Der Dichter redet hier und im folgenden von der Verkündigung des Engels an Maria, Luk. 1, 26 ff. ↩
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der Weisen. Matth. 2, 1 ff. ↩
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Matth. 2, 16. ↩
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Matth. 3, 13 ff. ↩
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Joh. 8, 59. ↩
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Matth. 4, 2; Luk. 4, 2. ↩
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Joh. 4, 31. ↩
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Matth. 4, 1 ff; Mark. 1, 13 ff; Luk. 4, 2 ff. ↩
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Joh. 2, 1 ff. ↩
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Matth. 8, 24 ff; Mark. 4, 37; Luk. 8, 23 f. ↩
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Luk. 7, 36 ff. ↩
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Joh. 11, 1 ff. ↩
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Joh. 18, 22. ↩
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Joh. 19, 28 ff. ↩
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Matth. 27, 50; Mark. 15, 37. ↩