2.
Niemand füge fortan seinem Nächsten Schaden zu; denn nur allzuviel Schaden hat uns bereits betroffen. Niemand bedränge hinfort seinen Mitbruder; denn Drangsale umgeben uns schon von allen Seiten. Der heidnische König1 steht an unseren Grenzen; die Heuschrecke bedroht unsere Äcker; der Sohn der Agar2, dieser hungrige Wolf, macht in unserem Lande seine Raubzüge. Wegen unserer Sünden sind wir mit allen drei Strafen zugleich heimgesucht worden, welche dem David zur Auswahl vorgelegt worden sind3, [110] nämlich mit Schwert, Hungersnot und Pest; diese drei bedrohen uns wie Rächer. Seht, unser Leben schwebt jetzt gleichsam, wie geschrieben steht4, in den Schalen der Wage; denn wenn die Gnade zu Boden sinkt, erhebt sich die Gerechtigkeit, um uns zu vernichten. Wenn der heidnische König kommt, wird er unsere Leichen den Vögeln vorwerfen; wenn die leidige Heuschrecke kommt, wird sie unsere Seele vom Leibe trennen; [120] wenn der hungrige Wolf kommt, wird er die Glieder unseres Körpers zerreißen; und wenn uns der Räuber plündert, werden wir unseres Besitztums beraubt werden. Wir wollen uns dasselbe erwählen, was auch David erwählte, nämlich, daß wir vom Krankenbette aus zum Grabe gebracht werden; nicht aber, daß wir von einem heidnischen König gefangen abgeführt werden, der bei der Eroberung kein Erbarmen übt. Denn wer selbst ohne Gott ist, dessen Schwert ist auch ohne Erbarmen. [130] Seine Diener sind noch schlimmer als er selbst und gleichen einer Otter, die auf die Stimme des Beschwörers nicht hört5. Das ausgerissene S. 231 und entwurzelte Volk6 sinnt darauf, in unser Land einzubrechen. Die Sünde unseres Landes hat den Heiden kühn gemacht und ihn angestachelt, in unsere Grenzen einzufallen. Öffnen wir also unsere Türen den Dürftigen, damit jener unsere Türen verschlossen finde! Geben wir reichliche Almosen, damit jenen reichliche Drangsale treffen! [140] Erlassen wir unseren Mitbrüdern, was sie gegen uns verschuldet haben, damit jener nicht sein Land verlasse und uns überfalle! Tilgen wir Zins und Wucher aus, damit wir nicht von jenem ausgetilgt werden! Der Zins tötet den Schuldner wie Oniel7 den Sisara. Als Samson mit sieben feuchten Stricken gefesselt war, konnte er sie alle zerreissen8; aber der Schuldner und seine Erben werden durch einen einzigen Strich jener schwarzen Flüssigkeit, welche sich auf den Schuldschein ergießt, [150] wie mit festgeflochtenen Seilen gefesselt. Sehet, die Sünde, welche aus der Schuldverschreibung emporsteigt, läßt den Tod zu unsrem Haupte emporsteigen. Der im Schuldschein festgesetzte Zins ruft die Vertilgung über unsere Seele herbei. Weil die Gerechten die Schranken des Gesetzes übertreten haben, so verfolgt uns jetzt die Gerechtigkeit. [160] Weil niemand die Gier tadeln wollte, deshalb weist uns jetzt die Gerechtigkeit Gottes zurecht. Weil unsere Willensfreiheit uns nicht selbst zurechtwies und zurückhielt, so hält uns jetzt das Strafgericht in Schranken. Weil der Schuldbrief den Tod eingepflanzt hat, sehet, so ist jetzt der Tod über unserem Haupte eingepflanzt. Weil das Schwert in Schuldverschreibungen S. 232 gezückt war, sehet, darum ist jetzt das Schwert gegen unseren Nacken gezückt.
-
d. h. der Perserkönig ↩
-
d. h. die räuberischen Araber. ↩
-
Vergl. 2 Sam. 24, 12. ↩
-
Vergl. Deut. 28, 66. ↩
-
Ps. 57, 5 f. ↩
-
Diese aus Isaias 18, 2, 7 entlehnten Beinamen werden hier den Arabern gegeben, um sie als heimatlose Nomaden und Räuber zu bezeichnen. ↩
-
So oder ähnlich dürfte das Wort zu punktieren sein. Nach Richt. 4, 21 wurde Sisara von Jahel, der Frau des Keniters Heber, getötet, nachdem er vom Richter Barak besiegt worden war. Wahrscheinlich hat unsern Dichter das Gedächtnis im Stich gelassen, so daß er Barak bezw. Jahel mit dem in Richt. 3 genannten Richter Othoniel verwechselte. Der Ausfall des „th“ mag ebenfalls auf einem Gedächtnisfehler oder auch auf einem Schreibversehen beruhen. ↩
-
Vergl. Richt. 16, 17. ↩